#36 Flatten the Horst

Liebe Susanne,

auch ich habe seit Corona schon mehr als zweieinhalb Kilo zugenommen. Ich sehe diese Entwicklung mit großer Sorge und versuche den Verlauf dieser Bruttogewichtsneuzunahme bereits seit einiger Zeit durch statistische Erfassung unter Kontrolle zu kriegen.

Zu Beginn der Krise, als mir der sprunghafte Anstieg des Körpergewichts zum ersten Mal auffiel, habe ich es mit „flatten the Horst“ versucht. Es ging einfach darum, die Geschwindigkeit der Gewichtsverbreitung zu bremsen. Also die Zahl der Tage, in denen sich die Grammzahlen der Gewichtszunahme verdoppelt haben, immer weiter zu strecken. 10 bis 14 Tage waren mein Ziel. Als dies erreicht war, habe ich auch die Reproduktionszahl R genauer beobachtet, Sie musste unter eins (R1) sinken. Also jedes neue Gramm Körpergewicht durfte nur noch ein weiteres Gramm Körpergewicht verursachen. Besser natürlich weniger als ein Gramm. Ideal wären R 0,2 oder 0,3. Dann könnte ich den Gewichtszunahmevirus eventuell austrocknen und dadurch schon bald zu einem vergleichsweise normalen Leben zurückkehren.

Es gab Stimmen in meinem Körper, die gerne auf die Strategie des Herdenübergewichts gesetzt hätten. Dies hätte bedeutet, daß man einfach 70 bis 80 Prozent der Gesamtbevölkerung durchübergewichtet. Wodurch die dann irgendwann so dick sind, daß mein Übergewicht in der Gesamtbevölkerungsmasse gar nicht mehr auffällt. Doch diese Strategie ist jetzt vom Tisch. Auch weil man nicht weiß, ob Übergewicht nicht doch auch für junge Menschen schwere Verläufe haben kann.

Stattdessen jetzt also Austrocknen und dann „trace the trail“, wo ich eben hoffentlich bald schon jede Neugewichtszunahme exakt zur Ursprungskalorie zurückverfolgen kann. Jeden Gewichtsveränderungsverlauf dokumentieren und wahrscheinlich per HandyApp direkt den zuständigen Körperorganen melden kann. Ich denke, damit kriege ich das Ganze in den Griff. Ich habe ein gutes Gefühl.

Wird bestimmt nicht einfach, aber wenns einfach wäre, könnte es ja jeder.

Viel Erfolg uns allen

Horst

#37 Sehnsucht nach Gewitter

Lieber Horst,

Das mit der persönlichen Wachstumskurve finde ich einen interessanten Ansatz. Toi toi toi! Und für den Fall, dass das alles nichts hilft, möchte ich Dir ein tröstliches Wort anbieten, das mir jüngst begegnete und das ich sehr lange nicht gehört hatte: das Wort „vollschlank“. 
Ich hatte auch als Kind mal eine Phase, in der ich etwas runder war. Da aber alle Erwachsenen immer davon sprachen, dass ich „voll schlank“ sei, dachte ich: Na, dann kann es so schlimm ja nicht sein. Frei nach Pippi Langstrumpf, ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt. Und letzten Endes doch auch irgendwie eine frühe Form von Resilienz. 
Ich beschließe also ab heute, voll schlank zu sein. Wir treten ja eh meist im Schummerlicht auf, Horst, und auf der Straße können viele Leute uns gerade eh nicht so genau erkennen, weil über diesem elenden Mundschutz die Brillengläser immer so beschlagen. 
So hat doch alles auch sein Gutes. Man könnte weinen. 

Ansonsten bin ich heute eher auf Krawall gebürstet. Wohl dem, der nicht zu meinen Kontaktpersonen gehört. 
Ich kann das C-Wort einfach nicht mehr hören.
Von morgens bis abends auf allen Kanälen, nichts anderes. Und dieser ewig blaue Himmel provoziert mich langsam auch, strahlt da vor sich hin als ob nichts wäre. Von mir aus könnte es jetzt ruhig mal gewittern, so ein richtiges Donnerwetter, das fände ich einfach angemessen. Aber nix. Alles muss man selber machen. 

Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, aber es ist nicht zuletzt das Thema Homeschooling, das mich zunehmend in den Wahnsinn treibt. 
Oder Hassaufgaben, wie es der Sohn einer Freundin inzwischen nennt. 
Mein Jüngster gehört ja zu denen, die nun doch noch planmäßig ihre MSA-Prüfungen ablegen sollen, was nach derzeitiger Lage wirklich schwer vollstellbar ist. Auch er ist also auf Krawall gebürstet – aber gut, er ist 16, da gehört sich das auch so.

In der Vergangenheit hat er sich oft darüber beklagt, dass die Themen des Lehrplans so gar keinen Bezug zum wirklichen Leben hätten und aktuelles politisches Geschehen viel zu selten diskutiert würde.  Das kriegt er jetzt gerade doppelt und dreifach zurück, denn – sämtliche Fächer werden mit Corona-Bezug präsentiert. 
Mathe? Darstellung der Corona Ausbreitung mit exponentiellen Graphen.
Geo? Landesspezifische Maßnahmen zur Ausbreitung der Corona-Pandemie. 
Deutsch: Politische Lyrik am Beispiel eines Corona-Songs. 
Ethik: Freiheit und Verantwortung in Zeiten von Corona. 

Hurra.

Das Thema, das er sich für seine MSA-Präsentationsprüfung ausgesucht hat, lautet übrigens „Anspruch und Wirklichkeit der schulischen Ausbildung in Deutschland“, hatte ich das schon erwähnt? So sucht sich halt jeder seinen Kanal. 
Als ich gestern etwas sorgenvoll zu ihm sagte „Hauptsache, Du schaffst den Abschluss irgendwie!“ antwortete er nur:
„Klar, mach Dir keine Sorgen. Notfalls mache ich halt so einen Job, wo ich den ganzen Tag Rezepte ausstelle. Dafür habe ich auf jeden Fall schon mal die richtige Handschrift.“ 

Manche sagen, den Humor hat er von mir. Ich weiß nur noch nicht so genau, wie ich das finde.

Liebe Grüße sendet Dir

Susanne 

PS: Wenn es noch einen Beleg braucht, dass die Welt aus den Fugen ist:
Das Oktoberfest ist abgesagt und der BER soll eröffnet werden! (*hysterisches Kichern*) 

#38 Popcorn

Liebe Susanne,

ich möchte Dir und Deinem Sohn mein ehrliches Mitgefühl ausdrücken. Ich fürchte, es gibt einen speziellen Ort in der Hölle für Pädagogen, die politische Lyrik anhand eines Corona-Songs analysieren lassen. Und dieser Ort ist nicht schön. Das tut mir auch für den Pädagogen oder die Pädagogin leid. Ich hoffe, es war zumindest nicht Silbermond. Sonst straft der Teufel einen auch gerne mal mit einem lebenslangen, bösartigen Ohrwurm.

Das macht er bei mir beispielsweise mit dem Quasi-Lied „Popcorn“. Wann immer ich nicht wachsam bin, höre ich völlig sinnlos dieses Synthesizer-Stück. „Didi didi didi dit, didi didi didi dit, didi dididididiii dididididiii dididididiiiii di…“ Aus dem Nichts.

Für welches Vergehen in meiner Kindheit ich da büße, ist unklar. Es muss jedoch etwas wirklich Schlimmes gewesen sein.

 Vielleicht, als ich damals, beim Holen der großen Europakarte von 1848, im Kartenraum heimlich angefangen habe, mein Pausenbrot zu essen. Was streng verboten war. Also im Kartenraum zu essen. Weshalb ich das Brot schnell versteckt habe, als plötzlich ein anderer Lehrer hereinkam. 

Es dann jedoch vergessen habe. Das Brot. Einige Monate, eventuell auch Jahre lang. 

Mich nur, wie alle Lehrer und Schüler, immer gewundert habe, warum es im Kartenraum so irrsinnig unangenehm riecht. Bis schliesslich das mittlerweile von einer handbreithohen Schimmelschicht bedeckte Brot von Sönke Lahrmann gefunden wurde.

Sönke, der drei Jahre vorher mal gewettet hatte, daß er eine ganze, riesige, vierschichtige  Erdbeere-Sahne-Torte alleine aufessen kann. Was er nicht geschafft hat, da die Wette als verloren galt, wenn man sich mehr als einmal übergibt. Also noch bevor die ganze Torte gegessen ist. Wobei er sie dann am Ende schon noch komplett vertilgt hat. „Wegen der Ehre“, wie er meinte. Hat ihm aber von wegen der Wette nichts mehr genützt.

Als mein angebissenes Wurstbrot oder der vielmehr der Schimmelhügel, zu dem es geworden war, gefunden wurde, habe ich mich sofort erinnert. Aber trotzdem nichts gesagt. Ich glaube seitdem höre ich mindestens fünfmal die Woche unerwünscht „Popcorn“. Einfach so. Könnte schon sein, daß es da einen Zusammenhang gibt.

Dazu noch eine kurze aktuelle Geschichte vom Sohn meiner Cousine. Der ist nämlich vor drei Wochen zuhause ausgezogen. Mitten in der Kontaktsperre, was eine Geschichte für sich ist, die ich jetzt aber nichts erzähle.

 In jedem Falle hat meine Cousine ihn jetzt besucht. Und wie eine Mutter das so macht, vorher gefragt, ob ihm noch was fehlt in der Wohnung. Woraufhin der Sohn wörtlich meinte:

 „Nee, eigentlich nicht.“ 

Also kommt meine Cousine nur mit frischen Handtüchern dort an. Was sich als ziemlich umsichtig erweisen sollte. Allerdings stellt sie dann fest, daß ihr Sohn seit drei Wochen in Corona-Sperre dort lebt und nur eine Fritteuse besitzt. Also keinen Topf und keine Pfanne. Nichts. Nur eine Fritteuse. Und er hat „eigentlich nicht“ das Gefühl, daß ihm was fehlt. 

Meine Cousine meint nun, diese kleine Anekdote bringe den Unterschied zwischen Jungs und Mädchen ziemlich präzise auf den Punkt. Denkst Du, da ist was dran?

Fragende Grüße

Horst

#39 Ganz andere Sorgen

Lieber Horst,

Heute Morgen, ich gebe es zu, habe ich zunächst wieder ein wenig Trübsal in meinen Kaffee geblasen. Heute Abend hätte ich eine Lesung gehabt, auf die ich mich schon sehr lange gefreut hatte. Aber nu. Hätte, hätte, … was weiß ich. Infektionskette vielleicht.
Mittlerweile konnte ich die trüben Gedanken wieder etwas beiseite schieben. Alles ist relativ, sage ich mir, andere Leute hatten vielleicht noch viel weitreichendere Pläne, die sie nun verschieben müssen?

An der Bushaltestelle bei uns gegenüber hängt seit gestern ein Hochzeitskleid.
Das ist wirklich ein seltsamer Anblick. Es ist an einem Stock befestigt und frei schwebend im Wartehäuschen aufgehängt, dadurch sieht es wirklich ein wenig unheimlich aus, vielleicht hast Du Fluch der Karibik gesehen.
Die Haltestelle ist gerade stillgelegt, wegen der Straßenarbeiten. 
Es ist sozusagen ein stillgelegtes Hochzeitskleid an einer stillgelegten Haltestelle. Wenn es noch ein Symbolbild für den Shutdown braucht – voilà! 
Ein umsichtiger Anwohner, der es vermutlich nicht aushielt, dass da so ohne jede Erklärung einfach ein Kleid hängt, hat nun einen Zettel daran angebracht:
„Motiv des Besitzers unklar. Vor Benutzung vorsichtshalber waschen.“
Irgendwie nett. Aber irgendwie auch sehr Steglitz. Mal gucken, wie es weitergeht. 

Ich habe meinen Söhnen übrigens von dem jungen Mann mit der Fritteuse erzählt, beide kriegten sofort so einen Glanz in den Augen. „Stark“ meinte der eine ehrfürchtig. „Dann hat er alles“ befand auch der andere.
Meine Söhne sagen ja auch mal Sätze wie „Der Donut ist der coole Bruder vom Eierkuchen“. Sie probieren durchaus mal die Ingwer-Koriander-Suppe an Dinkelbaguette – aber irgendwas frittieren, das ist für sie der Olymp der Kochkunst. Sie würden auch Spargel frittieren. 
Wenn der junge Mann also irgendwann Mitbewohner sucht, hier wären zwei Anwärter. Eine zusätzliche Anschaffung würden sie dann vielleicht doch noch tätigen, haben sie sich gerade überlegt: eine Microwelle. Wegen des Popcorns. Und so schließt sich dann wieder der Kreis, Horst. Didi didi didi dit.  

Was sie bei einem Auszug auf jeden Fall auch mitnehmen würden, wäre die Spielkonsole.
Zurzeit spielen sie ein Spiel namens Animal Crossing, ein recht harmloses Real Time-Game, wie mir scheint, bei dem man als Dorfbewohner umherstreift, ab und zu einen Fisch fängt und Obst vom Baum schüttelt, um es im Laden von Tom Nook und seinen Neffen Nepp und Schlepp zu verkaufen. Es gibt Eugen, die Eule, und Thorsten, den Bären. Thorsten ist gut gebräunt und durchtrainiert, schenkt man ihm einen Fisch, kann es sein, dass er einem eine Klimmzugstange zurückschenkt. Ich glaube, Du hast ein Bild. 
Die PETA hat nun eine Art Tutorial veröffentlicht, wie man dieses Spiel vegan spielt. Keine Fische fangen, Muscheln am Strand liegen lassen, achtsamer Umgang mit Bäumen und Früchten. Hammer. Und ein weiteres Beispiel dafür, dass manche Menschen tatsächlich ganz andere Sorgen haben.
Sind Ego Shooter Spiele eigentlich vegan?

Ach, apropos vegan. Letztes Jahr wollte der Jüngste nicht mit zum Sommerfest in Opas Pflegeheim, Begründung: „Die tanzen bestimmt wieder Bolognaise.“
Mit diesem schönen Bild lasse ich Dich jetzt mal alleine.

Sonnige Grüße aus dem Wartehäuschen
von

Susanne

#40 Ganz in weiss

Liebe Susanne,

Hängt das Hochzeitskleid dort immernoch?

Falls ja, würde es Dir etwas ausmachen, dann kurz nach der Größe zu gucken? Wenn die so ungefähr im Bereich „S“ wäre, hätte ich vielleicht eine Abnehmerin. Was man hat, das hat man.

Wohl jeder kennt Geschichten von Männern, die sich eine Pilotenuniform haben maßschneidern lassen, um mit der bessere Chancen bei Frauen zu haben. Ich aber hatte tatsächlich mal eine Bekannte, die gerne im Hochzeitskleid ausgegangen ist. 

Das hatte sie billig auf einem Flohmarkt ergattert. Geheiratet hat sie darin niemanden, aber kennengelernt jede Menge Leute. Bis heute schwört sie darauf, daß es nichts Besseres gibt, wenn man sehr viel angesprochen werden möchte. Eine allein unterwegs seiende, etwas traurig schauende Frau im Hochzeitskleid interessiert jeden Mann. Und auch jede Frau. 

Zudem kann man sich alle Geschichten ausdenken, die man nur will. Einem Hochzeitskleid, diesem Unschuldsweiss glaubt jeder alles. Tausend Gründe warum sie angeblich vor der Hochzeit in letzter Sekunde geflohen ist, hat sie sich zusammengesponnen. Nicht geglaubt wurden nur:

  • sie sollte mit einem Huhn verheiratet werden
  • sie hat versehentlich die Familie des Bräutigams ertränkt, weil sie deren Hochzeitsboot auf der Spree zum Kentern gebracht hat
  • der Bräutigam hat die Hochzeit abgesagt, weil er erfahren hat, daß sie sich im Zeugenschutzprogramm befindet

Alle anderen Räuberpistolen hat man ihr abgenommen. Egal ob es „habe einfach die Kirche nicht gefunden“-Variationen oder eine „habe Sekunden vor der Trauung bemerkt, daß mein Zukünftiger bereits eine andere Familie hat“-Spielarten waren.

Ob sie das heute noch macht, weiß ich leider nicht. Also im Moment natürlich sicher nicht, da man ja gar nicht mehr ausgehen und Leuten dummes Zeug erzählen darf. Was schade ist. 

Ich glaube, ich würde sehr gerne mal wieder am Wochenende fremde Menschen treffen, damit man sich zur gegenseitigen Unterhaltung anlügen kann.

Man staunt doch immer mal wieder, was einem so alles fehlt, wenn man mal mit dem Vermissen angefangen hat.

Am Sonntag wäre Frühschoppen-April-Derniere gewesen. Ich hätte nicht gekonnt. Das Bedauern von Dingen, die ich verpasst hätte, fehlt mir auch. Denn wenn es nicht stattfindet, kann man es ja nichtmal verpassen und das bedauern. Das mir sogar das fehlt, wundert mich jetzt schon.

Staunende Grüße

Horst

#41 Für Sie empfohlen

Lieber Horst,

heute muss ich mal einen schlimmen Verdacht äußern: Ich glaube, Amazon liest mit. 

Du kennst das sicher, dass immer wieder mal ungefragt Werbung aufploppt, wenn man im Internet unterwegs ist. 
Normalerweise bin ich wirklich sehr, sehr gut darin, diese zu ignorieren. Heute früh war ich wohl noch ein bißchen verschlafen und so blieb mein müder Blick dann doch aus Versehen hängen. 
Amazon empfiehlt mir demnach aktuell folgende Bücher:

  1. „Wie man Selbstdisziplin aufbaut, um Sport zu treiben“
  2. „Pubertät – wenn Erziehen nicht mehr geht“
  3. „Ratgeber narzisstische Persönlichkeitsstörung“

Zack, da isses. Mein Leben in drei Buchtiteln. In den nächsten Texten muss ich vielleicht mal unauffällig ein paar Schlagworte einbauen, die mein Profil wieder glattbügeln. Bikinifigur, Familienglück, Therapieerfolg. Ha! Nimm das, Amazon. 

Nach den letzten Texten ist wohl auch damit zu rechnen, dass wir Hochzeitsratgeber oder sowas empfohlen bekommen. Ich behalte das mal im Auge. 
Das Kleid hängt übrigens immer noch an der Bushaltestelle und weht ein wenig melancholisch in der Frühlingsbrise vor sich hin. Ich schaue nachher mal nach der Größe. Und Du kennst wirklich Frauen, die Größe S tragen? Unheimlich… 

Ich neige neuerdings dazu, Sachen zu tragen, die mir etwas zu groß sind, das ist total gut für die Psyche. Ich erinnere mich, dass Georgette Dee auf die Frage, warum sie immer mit dieser extrem langen Zigarettenspitze raucht, sinngemäß mal geantwortet hat: weil meine Hände dann zierlicher aussehen

Jetzt hab ich also überlegt, was man mit diesem Ansatz noch machen kann. Im Altbau wohne ich ja schon, die hohen Decken stehen mir sehr gut. Was meinst Du, ob es vorteilhaft wäre, von der Gitarre zum Bass zu wechseln? Für weitere Ideen bin ich offen. 

So, nun gehe ich mal in die Küche, das Abendessen vorbereiten. 
Auch ich vermisse im Corona-Alltag ja Dinge, von denen ich das nicht erwartet hätte. Fußball zum Beispiel! Kochen bei der Bundesligakonferenz vom Inforadio, ein festes Ritual. 
Aber die Berichte, die sie stattdessen bringen, sind mitunter auch ganz interessant. Auf der langen Liste der „Dinge, die ich nach Corona unbedingt mal machen will“ steht jetzt zum Beispiel auch „In Bremen mal einen Ahlenfelder bestellen und gucken, was passiert“. 
Ahlenfelder ist dieser Schiedsrichter, der bei einer Partie Hannover – Bremen so besoffen war, dass er schon nach 31 Minuten zur Halbzeit gepfiffen hat. Es heißt, man kriege heute noch ein Pils und einen Malteser, wenn man in Bremen einen Ahlenfelder ordert. 

Im Schrank liegt übrigens auch noch eine Tüte Chips der Geschmacksrichtung Stadionwurst. Hatten die Jungs mir vom Einkaufen mitgebracht, zum Trost. Womit wir jetzt nicht unbedingt bei der Bikinifigur, aber unbedingt beim Familienglück wären.

Fröhliche Grüße aus der Westkurve,

Susanne  

PS: Mein Ohrwurm des heutigen Tages ist The Lion sleeps tonight . 
Es gibt eine aktuelle Version von Roy Zimmerman:
In the White House, the mighty White House, the Liar tweets tonight …

#42 Ich kenne Frauen in allen Größen

Liebe Susanne,

dieser neue Text auf „the lion sleeps tonight“ fällt wirklich in die Kategorie: Wäre ich auch gern drauf gekommen. „The liar tweets tonight“ summt man doch gerne.

Apropos, im Park bin ich heute einer telefonierenden Frau begegnet, die plötzlich sehr authentisch und verzweifelt geschrien hat: „Echt mal ehrlich! Warum können denn nicht einfach alle das machen, was ich will?“

 Das hätte ich wirklich auch nicht besser formulieren können. Oder um mit Groucho Marx zu sprechen: „Ich bin nicht so größenwahnsinnig zu glauben, ich könnte alle Probleme dieser Welt lösen, wenn ich absolute Macht hätte. Aber ich könnte zumindest meine Probleme lösen.“

Dazu passt leidlich ein bemerkenswerter Dialog zwischen einem vielleicht vierjährigen Mädchen und ihrem Vater, den ich Mitte der Woche im Supermarkt aufgeschnappt habe. 

Das Kind fragte nämlich, warum ihre Eltern immer Kaisers zu dem Rewe-Markt sagen. Woraufhin der Papa antwortete, daß der Markt früher Kaisers geheißen hätte, dann aber wie alle Kaisers-Märkte von Rewe und Edeka gekauft wurde.

Die Tochter befand, daß Kaiser als Name sehr viel besser sei, als Rewe oder Edeka. Hätte man sie gefragt wäre eine derartige Namensverschlechterung nicht passiert. Also sinngemäß meinte sie dies. Das Mädchen hat es ein wenig einfacher ausgedrückt und mit Würge- und Kotzgeräuschen untermalt.

 Der wirklich erstaunliche und wörtliche Satz von ihr kam jedoch einige Sekunden später, als sie unvermittelt beschloss und verkündete: „Wenn ich groß bin, kaufe ich Jonas, dann kann ich ihn Findus nennen.“

Oder um es mit meinem alten Englischlehrer Herrn Noltze zu sagen, der, wenn er wieder mal die Namen seiner Schüler verwechselt hatte, gerne ausrief:

„Ach, heißt doch alle, wie ihr wollt!“

Namentliche Grüße

Horst

P.S.: Das mit dem Kleid hat sich erledigt. Die Interessentin hat das Foto gesehen und abgewunken. Aber über die Größe „S“ hat sie sich sehr gefreut. Ich weiß halt, wie‘s läuft. 
Doch auch grundsätzlich kann ich nach kurzem Nachdenken ganz aufrichtig sagen: Ich glaube, ich kenne wirklich Frauen in allen Größen.

#43 Aber machen se das Grüne raus

Lieber Horst,

ich gestehe, auch ich sage immer noch Kaiser´s zu manchem Rewe.  Auch Butter Lindner zu Lindner und Twix wird für mich immer Raider sein. Dabei habe ich früher immer mit den Augen gerollt, wenn meine Mutter stur Brenninkmeijer sagte, wenn doch von C&A die Rede war.
Aber gut, meine Oma hat schließlich auch immer Heinz zu meinem Vater gesagt und der heißt Horst. Und zu Heinz Herbert und zu Herbert dann meist Horst. Manchmal variierte sie auch. Sie hatte es aber auch wirklich nicht leicht mit den Namen ihrer drei Schwiegersöhne, und mit zunehmendem Alter ging sie dazu über, nicht mehr nachzudenken und einfach immer alle drei Namen zu rufen, also: Herbertheinzhorst. Funktionierte einwandfrei. Und ist mir vor allem im Zusammenhang mit einer Rüge in Erinnerung, wenn die drei bei einer eigentlich beschaulichen Kaffeetafel mal wieder lauthals über Politik stritten. Herbertheinzhorst hatte deshalb auch immer sowas von Alle in einen Sack, Du triffst immer den Richtigen.

Was ich aber eigentlich erzählen wollte – beim Stichwort Kaiser´s fiel mir eine Szene wieder ein, die ich dort dereinst an der Wursttheke beobachten durfte. Ein Highlight aus der Rubrik Nonsens in Supermarkt.
Eine alte Dame, die vor mir dran war, bestellte wörtlich:
„…Und dann noch 100 g Mortadella mit Pistazien, bitte, aber machen se das Grüne raus!“ 

Ist das nicht wunderbar?
Gespannt wartete ich damals auf die Reaktion des Verkäufers, doch der seufzte nur resigniert und tat wie ihm geheißen, offenbar kannte er das Spiel schon. In seinem Gesicht lag das milde Lächeln desjenigen, der einen Weg gefunden hat, sich mit mit etwas zu arrangieren, das ihn eigentlich in den Wahnsinn treibt. 

Apropos. Diese Masken!
Ich bemühe mich wirklich sehr um das besagte milde Lächeln, aber es ist gerade mal Ende April und mir wird jetzt schon warm unter dem Ding. 
Nun gut, vermutlich braucht es auch einfach ein bißchen Geduld und Gewöhnung, wir üben ja alle noch.
Auch die Pflege der Dinger will gelernt sein. Die Tante einer Freundin hat ihren Mundschutz gestern zum Desinfizieren in die Mikrowelle gelegt. Davon hatte ich auch schon mal gehört. Leider sind ihre Masken dann in der Mikrowelle in Flammen aufgegangen. Wir vermuten stark, dass es synthetische Masken waren, vielleicht solche mit einem eingenähten Metallbügel für die Nase. 
Metall in der Mikrowelle ist ja ähnlich gesund wie Desinfektionsmittel in der Spritze, aber das ist ein anderes Thema. 

Ich pflege derweil meine Rituale. 
Morgens gehe ich mit meinem Pott Kaffee auf den Balkon und bestaune erstmal die neuesten Kapriolen der Clematis. Die kennst Du ja auch schon.  Heute früh hat sie gerade den Sonnengruß geübt, das fand ich sehr berührend. Vielleicht probiere ich das auch mal irgendwann. 

Mit mildem Lächeln grüßt Dich, lieber Heinz,

Susanne

#44 Wer ist schuld?

Liebe Susanne,

bei der Geschichte mit der Pistazien-Mortadella musste ich nun wieder gleich an meinen Onkel Herbert denken, der es liebte im Lokal folgende Bestellung aufzugeben:

„Ich hätte gerne einmal die Spaghetti Napoli. Aber mit Fleisch statt Nudeln und lassen Sie die Sauce weg.“

Bist zum Schluss hat er nicht bemerkt, daß es nie ein Kellner lustig fand. Auch sonst keine Person am Tisch. Nur er hat sich jedesmal ausgeschüttet vor Lachen. Solange, bis sich doch irgendwann alle mit ihm gefreut haben. Das war schon irgendwie auch toll. Er konnte wirklich einfach solange lachen, bis alle mitgelacht haben. Schade nur, daß er darauf bestanden hat, vorher auch noch einen Witz zu machen. Ohne seine Witze wäre mir das Lachen leichter gefallen.

Ein beliebtes Opfer seiner Witze waren, neben unbeteiligten Passanten, auch immer die Herren Professoren. Er kannte stets einen Herrn Professor Richtigschlau, der dann beispielsweise zu einer hundert Kilometer entfernten Tankstelle gefahren ist, weil dort das Benzin 2 Pfennig billiger war.

Dies wiederum fällt mir nun ein, da wir schon vor vier Wochen in der Familie diskutiert hatten, wem man wohl diesmal am Ende die Schuld für diese Krise geben würde. 

Ausländer, Asylanten oder Flüchtlinge wären ja wohl als Coronasündenböcke nur sehr schwer zu begründen. Selbst Juden oder Moslems kann man nicht richtig dafür verantwortlich machen. Und auch die Drogenmafia oder die Klimalobby bieten sich nicht wirklich an. 

Wir hatten deshalb schließlich im Scherz spekuliert, daß es nun womöglich die Wissenschaftler erwischen könnte. Was damals noch ein albernes Geplänkel war, scheint jedoch langsam gar nicht mehr so abwegig. Ich finde das beunruhigend. 

Natürlich könnte ich sagen: „Da sind sie auch selber schuld. Sie hätten ja auch so wie ich damals ihr Studium abbrechen können. Hat sie ja keiner gezwungen, einen Abschluss und Karriere zu machen.“ Doch ich bin nicht sicher, ob die, die es angeht, die Ironie verstehen.

Mein alter Linguistik-Professor hat mal gesagt: „An der Qualität ihrer Ironie, erkennt man die Idioten.“ Eine These, die durch die heutigen Scherze der AfDler häufig bestätigt wird.

Mein Onkel war übrigens im Grunde herzensgut. Nur ein bisschen Rassist und außerdem einigermaßen Akademiker- und Frauenfeindlich. Aber sonst ganz gewiss kein schlechter Mensch. Und er hatte Humor. Aber nicht zu knapp!

Außer, wenn er Witze erzählte. Aber irgendeine Schwäche hat ja jeder.

Wer kennt das nicht.

Bis morgen 

Horst

#45 Pasta Arrabiata

Lieber Horst,

Als Kellner muss man wohl so einiges abkönnen, solche lustigen Kunden wie Deinen Onkel gibt es ja überall. Meist dicht gefolgt von denen, die darauf bestehen, sehr wortreich und umständlich in der jeweiligen Landessprache des Restaurants zu bestellen. Da helfen der Bedienung nur heiteres Nicken und ein stabiles Lächeln. Zumal die Araber, zum Beispiel, die die Pizzeria bei uns um die Ecke betreiben, ja selber gar kein Italienisch können. Ich liebe es sehr, wie sie trotzdem konsequent Prego sagen, mit so einer Prise Neukölln, zu Stammkunden auch gerne mal Prego, Bruder.

Hach ja.
Mit Freunden treffen, im Getümmel sitzen, plauschen, ein Glas Wein trinken und die Welt begucken – das wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis das wieder geht. 
Ersatzweise machen wir im Freundeskreis jetzt manchmal Zoom-Konferenzen. Wir besprechen vorher, was wir trinken, dann wird angestoßen und geplaudert. Ich bin noch etwas unsicher, wie ich das auf Dauer finde, es ist sowas zwischen tröstlich und traurig.  

Ohrwurm des Tages? Jetzt dachtest Du bestimmt, Azzurro – aber nein. Eigentlich wäre ja heute Tanz in den Mai angesagt, ich singe deshalb schon den ganzen Tag Dancing with myself vor mich hin. Das kriegst Du jetzt bestimmt auch nicht mehr aus dem Kopf. Prego.
Jedenfalls habe ich soeben die Einladung eines Freundes erhalten: Zum Dis-Tanz. Online. Ich bin sehr gespannt, Bericht folgt.

Apropos, wie siehst Du denn dem 1. Mai entgegen? Die Polizei hat erklärt, dass die Hygieneschutzbestimmungen diesmal im Vordergrund stehen sollen. Ich kann mir das noch nicht so richtig vorstellen. Vor meinem inneren Auge sehe ich verstörte Demonstranten Steine desinfizieren.  Aber im Ernst, nie war das Vermummen so uncool wie in diesem Jahr, oder?

Leider habe ich das Gefühl, dass insgesamt eine gewisse Gereiztheit über der Stadt liegt.  Sagen wir so – vorhin im Park gab es einen Moment, da war ich mir nicht sicher, ob die Leute die Enten wirklich füttern. Oder die Enten mit Brot bewerfen. 

So, jetzt schnappe ich mir mal meine Mund-Nasen-Maske vom Schlüsselbrett und sehe nach, wie die Stimmung im Supermarkt heute ist. Ich drücke mich schon die ganze Zeit. Nicht wegen der Gereiztheit, vielmehr wegen meiner beachtlichen Knoblauchfahne. 
Tja, so sind wir dieser Tage wohl alle auf die eine oder andere Art auf uns zurückgeworfen.

Aus sicherer Entfernung grüßt Dich

Susanne

PS: Neulich gab es Küchenrolle im Retrodesign. Bei dem Slogan Dick& Durstig fühlte ich mich spontan sehr angesprochen. Deshalb hab ich es auch nicht gekauft.