#78 Was mir nicht fehlt, fehlt mir

Liebe Susanne,

zum Frisör gehen zu können, ist eine der Sachen, um die ich Dich wirklich beneide. Das würde ich auch gerne mal wieder. Doch ich fürchte, die würden sich verhohnepipelt vorkommen, wenn ich dort ankäme und „Bitte einfach nur die Spitzen ein bisschen“ sage.

Oder gibt es bei Frisören womöglich schon einen Service speziell für Glatzköpfe? Fischrestaurants haben ja auch immer ein ausgewähltes Menü für Menschen, die keinen Fisch mögen. Genauso wie Steakhäuser Gerichte für Vegetarier anbieten und Verlage Buchreihen für Nichtleser auflegen.

Tatsächlich ist dies für mich aber auch ein weiteres erstaunliches Corona-Paradox. Wie ich Menschen um Dinge, die ihnen fehlen, beneide. Weil es mir eben nicht fehlt. Und ich denke, mir fehlt etwas, wenn es mir nicht fehlt.

Der Freund der Tochter freut sich total, daß die Fitnessstudios wieder öffnen. Ich denke: „Es wäre schön, wenn ich mich auch darüber freuen könnte. Schade, daß es mir egal ist. Mein Leben ist ärmer, weil mir das Fitnessstudio nicht fehlt.“

Wenn ich mich für die Formel Eins interessieren würde, könnte ich darunter leiden, daß die im Moment nicht stattfindet. Womöglich würde mir dieses Leid etwas geben. Ich könnte traurig sein, daß Vettel Ferrari verlässt. Vielleicht hätte diese Trauer etwas anmutiges, wenn nicht edles. 

So aber denke ich nur: „Warum weiß ich überhaupt so einen Scheiß? Ist mein Gedächtnis wirklich immernoch so propper unterwegs, daß es sich den Luxus leisten kann, für so einen Quark Speicherplatz zu verplempern? Für den Unsinn hätte ich mir auch etwas merken können, was ich jetzt vergessen habe. Glaube ich zumindest. Ich erinnere mich ja nichtmal daran, was ich vergessen habe. Im schlimmsten Falle stelle ich nach ewigem Nachdenken, wenn es mir tatsächlich wieder einfällt, fest, daß ich mich dafür auch nicht interessiere.“

Aber gut. Ich bemerke also mit einigem Unbehagen, daß es mich traurig macht, wenn mir jetzt wieder Dinge erlaubt werden, die ich überhaupt nicht vermisst habe.

Vielleicht bin ich aber auch nur irritiert, weil ich die Denkfehler nicht verstehe.

Wie ein normales Leben in Berlin ab September funktionieren soll, wenn gleichzeitig zum Beispiel U-Bahnen und Busse nicht überfüllt sein dürfen, ist mir völlig schleierhaft. Schon jetzt reicht ein plötzlicher Ersatzverkehr, um alle Abstandsregeln wie nix hinweg zu wischen. 

Warum dann für Theater und Kinos solch absurde Abstandsgebote durchgezogen werden, erschließt sich mir rein logisch nicht wirklich. Der einzige Grund dürfte sein, daß man es dort durchsetzen kann und anderswo eben nicht.

Womöglich denkt aber auch irgendwo irgendwer mit Einfluss gerade schon, daß ihm etwas fehlt, wenn es ihm nicht fehlt, ins Theater gehen zu können. Dann könnte es ja womöglich doch nochmal alles gutgehen und es dürfen etwas intelligentere Öffnungskonzepte für Auftrittsorte entwickelt werden. Würde echt helfen. Nicht nur mir.

Hoffnungsfrohe Grüße

Horst

#79 Auf uns…

Lieber Horst,

Gestern hatte ich einen Termin in Frohnau und bin nach sehr langer Zeit mal wieder so richtig ausgiebig S-Bahn gefahren.  Ich hatte mich wirklich ein bißchen darauf gefreut, einen weiteren kleinen Schritt zurück in die Normalität zu wagen – doch das erhebende Gefühl wollte sich nicht so recht einstellen.

Ich finde, an jeder vermeintlichen Normalität kleben momentan noch so kleine doofe Etiketten. Falsch steht darauf oder Achtung oder einfach nur Corona – weißt Du, was ich meine?
Es ist diese Art von Etiketten, die man selbst nach langem Einweichen und viel Schrubben nur schwer abkriegt und die noch ewig nerven und kleben, auch wenn man die Schrift längst nicht mehr erkennen kann.
So wird es wohl noch eine Weile sein.

Apropos, in der S Bahn sind jetzt überall so große rote Aufkleber, auf denen steht „Abstand halten, Mund und Nase bedecken“.
Nach längerem Beobachten würde ich sagen, dass viele eher den Abstand bedecken und den Mund nicht halten, aber was will man machen. Besonders krass war es auf dem Rückweg, im Schienenersatzverkehr.  Also versteh mich nicht falsch, ich will jetzt gar nicht meckern, Horst, ich habe mich in den letzten Monaten der Isolation wirklich sehr nach der Nähe anderer Menschen gesehnt, hatte dabei aber irgendwie mehr an welche gedacht, die ich kenne. Und mag. Und die kein Bier auf meine Schuhe gießen. Möglicherweise bin ich da  etwas kleinlich.

Ansonsten kann ich vermelden, dass ich heute früh schon beim Sport war. Kieser Training hatte geschrieben, dass sie wieder öffnen, sie werben jetzt mit dem Slogan Bei uns trainieren sie mit Abstand am besten. (Tätää.)
Ich war wirklich hochmotiviert, zumal, wie ich feststellen musste, der Anblick, den ich nach den bewegungsarmen Monaten in meiner pinkfarbenen Jogginghose biete, vage an einen Blueberry-Cheesecake-Muffin erinnert. Ja, ein Bild, das auch bei näherer Betrachtung in sich sehr stimmig ist.

Wenn ich wieder mal Gefahr laufe, mich in die ewige Schmach meiner Unsportlichkeit reinzusteigern, rufe ich mir ja immer gerne die Worte von Heinzi, dem Kneipenwirt meines Herzens, in Erinnerung:
„Fragt mich jestern so ne Pfeife, ob ick ooch ne Sportapp habe, so mit Schrittzähler und so. Hab ick jesacht, wie et is: Ey, wenn de bei mir da watt messen willst, reicht eigentlich n Bewegungsmelder.“

Und dann weiß ich wieder: Alles ist relativ.

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Lieber Horst,

nun gehen wir tatsächlich auf die Achtzig zu.
Als wir anfingen, uns zu schreiben, hatten wir das alles noch für eine kurze Zwischenphase gehalten. Damals, weißt Du noch, als der Flieder noch jung und die Witze über Klopapier noch komisch waren.

Die Krise ist noch lange nicht vorbei.
Aber man sagt ja, neue Wege entstehen beim Gehen, und insofern ist es wohl auch für uns an der Zeit, wieder ein bißchen loszulaufen.

Bevor wir diesen Krisenkalender in den Ruhestand versetzen, möchte mich bei all den treuen Mitlesenden bedanken, die uns in diesen seltsamen Tagen begleitet haben. Manchmal fühlte es sich an wie eine Gemeinschaft – Ihr wart unsere Verbündeten zwischen den Zeilen.

Vor allem aber will ich Dir Danke sagen, Horst. Und das von ganzem Herzen!

Für Dein Erzählen und Zuhören.
Für das tägliche Lächeln und das ehrliche Seufzen.
Für den gemeinsamen Blick auf das Schöne und Leichte inmitten des Schweren.

Wir sehen uns auf der einen oder anderen Seite. Ich freue mich darauf.

Sei umarmt und gegrüßt
von Deiner Krisenkollegin

Susanne

 

PS: Auf uns!

#80 In 80 Tagen um die Welt zuhause

Liebe Susanne,

Corona ist noch nicht vorbei. Wer wüsste das besser, als wir? 

Noch immer ist alles, was wir machen dürfen, nur Behelf. 

Samstagabend beispielsweise gehe ich auf die Schöne Party. Allerdings werde ich der einzige Gast dort sein. Da die Macher der Schönen Party zumindest nicht gar nichts machen wollen, werde ich also im LiveStream ab 20.00 Uhr 45 Minuten lang Geschichten erzählen. Natürlich ohne Publikum. So gern ich mich und meine Geschichten auch mag. Was für eine Party ist das denn?

Allerdings habe ich jetzt natürlich Angst, daß sowas passiert, wie bei dem Landwehrkanal-Rave am Sonntag. Also daß spontan tausende Raver am Samstag mit und ohne Schlauchboote in den Frannz-Club kommen, weil sie zu meinen Texten mal wieder richtig abtanzen wollen. Ich hoffe, es geht alles gut.

Das dachte man ja ohnehin ständig während der letzten 80 Tage. Hoffentlich geht alles gut. Das werden wir natürlich auch in den nächsten 80 Tagen denken. Und eigentlich denke ich das ja schon mein ganzes Leben lang. Im Prinzip sogar ununterbrochen.

Daher möchte ich diesen letzten (viel zu langen) Brief des Krisenkalenders nutzen, um eine kleine höchst unvollständige und extrem subjektive Bilanz von Corona zu ziehen. 

Ich fand und finde diese Seuche und ihre Folgen alles in allem wirklich sehr, sehr, sehr doof. 

Damit wäre diese Bilanz eigentlich schon abgeschlossen, allerdings bin ich ja stets bemüht auch das Positive zu sehen, weshalb ich hier dann doch noch etwas differenzieren möchte.

Gut ist, daß die Massnahmen vermutlich bislang sehr, sehr viele Leben gerettet haben und hoffentlich auch weiter retten werden.

Schlecht ist, daß trotz allem auch viele Menschen an dieser Krankheit gestorben sind und auch noch sterben werden.

Gut ist, daß der Schutz von Leben tatsächlich einmal vor den Schutz der Wirtschaft gestellt wurde.

Schlecht ist, daß am Ende nicht die Wirtschaft den Preis dafür zahlen wird.

Gut ist, daß für einen ganz, ganz kurzen Moment sehr viele Menschen endlich mal die Anerkennung für ihre Arbeit bekommen haben, die ihnen mehr als zusteht.

Schlecht ist, daß dies eben nur ein sehr kurzer Moment war und sie sich auf mittlere Sicht für diese Anerkennung nichts werden kaufen können. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Gut ist, daß ich wohl für den Rest des Jahres keine Steuern mehr zahlen muss.

Schlecht ist, daß dies wahrscheinlich vielen kleinen Selbstständigen so gehen wird.

Gut ist, daß der ganz überwiegende Teil der Menschen sich in Krisensituationen verständig, sozial, uneigennützig und opferbereit verhält.

Schlecht ist, daß keine der Chancen, die diese Krise geboten hätte, genutzt werden wird.

Gut ist, daß zur Corona-Hochzeit viele der größten Idioten tatsächlich mal die Klappe gehalten haben.

Schlecht ist, daß die allergrößten Idioten nun allerdings lauter denn je sind.

Gut ist, daß ich nicht in einem Land lebe, welches von bösartigen, durch und durch skrupellosen Narzissten regiert wird.

Schlecht ist, daß mir das womöglich nichts nützt, wenn die dumpfe Seite der Macht die ganze Welt in Brand steckt.

Gut ist, daß ich während der schlimmsten Corona-Tage diesen Krisenkalender hatte, der mir sehr geholfen hat, nicht wahnsinnig zu werden oder mich ganz der tiefen Traurigkeit hinzugeben.

Schlecht ist …daran nichts.

Nichts muntert mehr auf, macht mehr Mut, als der Versuch etwas Lustiges zu schreiben. 

Allen Leserinnen und Lesern möchte ich daher aufrichtig danken, daß sie mir eine Motivation dafür gegeben haben.

Ich konnte nie Tagebuch schreiben. Da ich mich selbst als Leser nicht ernst nehme. Für mich würde ich mir keine Mühe geben.

Daher danke ich Ihnen, für die Mühe, die ich mir gemacht habe. Mir hat das sehr gut getan.

Der Krisenkalender wird mir fehlen. Aber, um den Gedanken, den ich in meinem vorletzten Brief vorbereitend schon umrissen habe, hier nun wieder aufzunehmen: 

Irgendwie mag ich es, wenn mir Dinge fehlen. Wenn mir nichts fehlen würde, würde ich das Vermissen vermissen. Und der Krisenkalender ist eine richtig tolle Sache zum vermissen. Da ich nur gute Erinnerungen an ihn habe.

Dazu, liebe Susanne, hast Du sehr wesentlich beigetragen.

Und dafür möchte ich auch Dir von Herzen danken.

Es ging hier: „In 80 Tagen um die Welt zuhause“.

Ich habe mich sehr heimisch gefühlt.

Horst