Liebe Susanne,
ich möchte Dir und Deinem Sohn mein ehrliches Mitgefühl ausdrücken. Ich fürchte, es gibt einen speziellen Ort in der Hölle für Pädagogen, die politische Lyrik anhand eines Corona-Songs analysieren lassen. Und dieser Ort ist nicht schön. Das tut mir auch für den Pädagogen oder die Pädagogin leid. Ich hoffe, es war zumindest nicht Silbermond. Sonst straft der Teufel einen auch gerne mal mit einem lebenslangen, bösartigen Ohrwurm.
Das macht er bei mir beispielsweise mit dem Quasi-Lied „Popcorn“. Wann immer ich nicht wachsam bin, höre ich völlig sinnlos dieses Synthesizer-Stück. „Didi didi didi dit, didi didi didi dit, didi dididididiii dididididiii dididididiiiii di…“ Aus dem Nichts.
Für welches Vergehen in meiner Kindheit ich da büße, ist unklar. Es muss jedoch etwas wirklich Schlimmes gewesen sein.
Vielleicht, als ich damals, beim Holen der großen Europakarte von 1848, im Kartenraum heimlich angefangen habe, mein Pausenbrot zu essen. Was streng verboten war. Also im Kartenraum zu essen. Weshalb ich das Brot schnell versteckt habe, als plötzlich ein anderer Lehrer hereinkam.
Es dann jedoch vergessen habe. Das Brot. Einige Monate, eventuell auch Jahre lang.
Mich nur, wie alle Lehrer und Schüler, immer gewundert habe, warum es im Kartenraum so irrsinnig unangenehm riecht. Bis schliesslich das mittlerweile von einer handbreithohen Schimmelschicht bedeckte Brot von Sönke Lahrmann gefunden wurde.
Sönke, der drei Jahre vorher mal gewettet hatte, daß er eine ganze, riesige, vierschichtige Erdbeere-Sahne-Torte alleine aufessen kann. Was er nicht geschafft hat, da die Wette als verloren galt, wenn man sich mehr als einmal übergibt. Also noch bevor die ganze Torte gegessen ist. Wobei er sie dann am Ende schon noch komplett vertilgt hat. „Wegen der Ehre“, wie er meinte. Hat ihm aber von wegen der Wette nichts mehr genützt.
Als mein angebissenes Wurstbrot oder der vielmehr der Schimmelhügel, zu dem es geworden war, gefunden wurde, habe ich mich sofort erinnert. Aber trotzdem nichts gesagt. Ich glaube seitdem höre ich mindestens fünfmal die Woche unerwünscht „Popcorn“. Einfach so. Könnte schon sein, daß es da einen Zusammenhang gibt.
Dazu noch eine kurze aktuelle Geschichte vom Sohn meiner Cousine. Der ist nämlich vor drei Wochen zuhause ausgezogen. Mitten in der Kontaktsperre, was eine Geschichte für sich ist, die ich jetzt aber nichts erzähle.
In jedem Falle hat meine Cousine ihn jetzt besucht. Und wie eine Mutter das so macht, vorher gefragt, ob ihm noch was fehlt in der Wohnung. Woraufhin der Sohn wörtlich meinte:
„Nee, eigentlich nicht.“
Also kommt meine Cousine nur mit frischen Handtüchern dort an. Was sich als ziemlich umsichtig erweisen sollte. Allerdings stellt sie dann fest, daß ihr Sohn seit drei Wochen in Corona-Sperre dort lebt und nur eine Fritteuse besitzt. Also keinen Topf und keine Pfanne. Nichts. Nur eine Fritteuse. Und er hat „eigentlich nicht“ das Gefühl, daß ihm was fehlt.
Meine Cousine meint nun, diese kleine Anekdote bringe den Unterschied zwischen Jungs und Mädchen ziemlich präzise auf den Punkt. Denkst Du, da ist was dran?
Fragende Grüße
Horst