#46 Hauptsache nix mit Arbeit

Liebe Susanne,

Es soll jetzt wirklich keine Gewohnheit werden, hier die schlechten Witze meiner Kindheit zu zitieren. Doch wo ich schonmal von meinem Onkel angefangen habe und heute ja nun der erste Mai ist, muss ich doch erwähnen, daß der, immer wenn das Wetter am Tag der Arbeit so ein unsteter Wechsel von Sonne und Regen war, sich selbst begeisterte mit dem Ausruf:

 „Das ist ja gar nicht der erste Mai. Das ist ja der 31. April.“

Und als ich genau diesen Scherz gerade bei der offiziellen Wettervorhersage vom Sprecher im Radio hörte, da war das fast wie ein Heimkehren in die ländliche Kindheit. Aber mitten in Berlin. So weit ist es schon. Das jetzt sogar die schlechten Witze meiner Jugendjahre zu einem Stück Heimat und Geborgenheit für mich geworden sind.

Nun habe ich schon soviele erste Maie in Berlin erlebt. Doch erstmalig denke ich am Tag der Arbeit tatsächlich an Arbeit. Also Arbeit als etwas Positives. Das hätte ich nie erwartet. 

Als ich noch davon ausgegangen war, ich würde einmal so etwas wie einen Beruf ergreifen, war mein wichtigstes Kriterium für die Auswahl: „Hauptsache nix mit Arbeit!“.

 Eben irgendeine Beschäftigung, wo man für möglichst wenig Tätigkeit, sehr viel Geld bekommt.

Kurze Zeit später musste ich lernen. Man ergreift keinen Beruf. Das ist eine dieser Lügen, die sie Dir als Kind erzählen. Man wird von einem Beruf ergriffen. 

In meinem Falle war es ja dann einer, wo ich zunächst für erschütternd viel Tätigkeit deprimierend wenig Geld bekommen habe. Und dennoch davon überzeugt war (und immernoch bin), daß ich unfassbares Glück gehabt habe. 

Zum ersten Mal habe ich am Tag der Arbeit das Gefühl, ich würde mich gerne dafür bedanken. Wie ich mich eben für sowas bedanke. Mit einer Demonstration zum Beispiel. Wie genau das jetzt ablaufen könnte, weiß ich aber auch noch nicht. Zuviel Tätigkeit fände ich am Tag der Arbeit nun auch wieder unangemessen. Und soweit, daß ich mich dafür durchregnen lasse, geht der Wunsch mich zu bedanken ja nu natürlich auch wieder nicht.

Doch andere haben ganz andere Sorgen.

Ein Freund, der ein richtig großes Fest an diesem Wochenende absagen musste, tröstete sich gestern mit den Worten: „Naja, zum Glück hätten wir wenigstens Pech mit dem Wetter gehabt.“

Eine Nachbarin, die unter einem richtig heftigen Frühlingsschnupfen leidet, einer ständig laufenden Nase, meinte wörtlich: „Für mich persönlich ist dadurch diese Maskenpflicht in U-Bahn und Geschäften gerade die ekligste Erfahrung seit… das willste gar nicht wissen!“

Eine Bekannte meinte, in ihrem Haus gebe es mehrere Bewohner, die die Masken ablehnen, aber das Abstandsgebot durch den ununterbrochenen Verzehr von Knoblauch und rohen Zwiebeln durchsetzen wollen. Langsam dringt der Geruch vom Treppenhaus in die Wohnung.

Dagegen ist das seltsam Behagliche, welches ich bei schlechten Witzen aus meiner Kindheit verspüre, natürlich nichts worüber man sich Gedanken machen sollte.

Hoffe ich.

Einen schönen 31. April wünscht Dir 

Horst

#47 Im Schatten des Basilikum

Lieber Horst, 

Beim Stichwort 31. April ist mir plötzlich ein ganzes Päckchen Erinnerungen aus dem Gedächtnis gepurzelt…

Die frühen Neunziger, ich wohnte damals in meiner ersten eigenen Wohnung und hatte es geschafft, diese in einem ansonsten wirklich formvollendeten Schreiben „zum 31. April“ zu kündigen. Der Hausbesitzer, ein Lankwitzer Blockwart mit Polyesterpulli und beigefarbener Schiebermütze, der noch dazu im Nebenhaus wohnte, hat dann extra bis zum Monatsersten gewartet, mich dann auf den Fehler aufmerksam gemacht – und mir mit süffisantem Lächeln erklärt, dass er in Ermangelung eines 31. April auch mein Schreiben als nicht existent betrachte. Meine Kündigungsfrist verlängerte sich so um einen Monat. 
Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Mit dem Mieterschutzverein. Aber nun – letztlich war es auch ein stimmiger Abschluss für ein ziemlich schräges Kapitel.
Nur ein Jahr hatte ich es dort ausgehalten und immerhin so einiges gelernt. Dass es Leute gibt, die den Rasen vor ihrem Fenster mit einer Nagelschere schneiden, zum Beispiel. Oder dass es Mietverträge gibt, in denen man zur „ortsüblichen Bepflanzung des Balkons (Geranien)“ verpflichtet wird.
Ich hatte dann neben den Geranien auch einen Basilikumtopf eingepflanzt. Im Treppenhaus sprach man hinter vorgehaltener Hand fortan nur noch über die „Kräuterhexe aus dem 3. Stock“…

Hach ja. Dabei war ich zu der Zeit eigentlich so menschenfreundlich drauf, gerade erst von einem halben Jahr auf Amrum zurückgekehrt und bester Dinge. 
Meine Amrumer Freunde – echte Insulaner, für die Föhr die große weite Welt war, weil es dort eine Ampel gab – riefen mich in den folgenden Jahren dann übrigens immer am 1. Mai an. Wenn ich ans Telefon ging, hörte ich aufgeregte Sätze wie „Ach, Gott sei Dank, Deern, bist du in Sicherheit? Brauchst du Hilfe?“, dann hatten sie im Fernsehen wieder Bilder vom 1. Mai in Kreuzberg gesehen. Das hat mich wirklich sehr gerührt. 

So, Schluss jetzt mit sentimentalen Erinnerungen.
Die Musik ist aus, nun gucke ich mal nach, wie es in der Küche aussieht. In einer pfiffigen Sekunde habe ich den Kindern nämlich erlaubt, ihre Wunschmusik volle Pulle aufzudrehen – solange sie sich währenddessen in der Küche nützlich machen.
Fröhliche Sätze wie „Darf ich den Geschirrspüler jetzt ausräumen?“ sind seither an der Tagesordnung. Ich liebe es. Und ihre ganz eigene Art, das Geschirr einzuräumen, sorgt obendrein für Abwechslung und Nervenkitzel.

Was will ich denn mehr? 

Heitere Grüße durch die verhagelte Stadt sendet Dir

Susanne

PS: Ich habe endlich eine Maske gefunden, die zu mir passt. Mehr morgen!

#48 Der Verabschiedungssack

Liebe Susanne,

Ich habe heute große Teile des Tages damit verbracht, in der Stadt zu beobachten, wie die Menschen sich begrüßen und verabschieden. Dies ist ja mittlerweile sehr individuell und kreativ geworden, da man das nicht mehr per Handschlag, Umarmung oder Anstupsen machen kann.

Erstaunlich oft sehe ich diese asiatische Verbeugung mit aneinander gelegten Händen. Wie beim Judo oder der Teezeremonie. Tatsächlich muss ich leider auch jedesmal an Kung Für Panda denken und rechne immer damit, daß es dann ja wohl gleich in die Fresse gibt.

Nachdem die Zeit der Fuß- und Ellenbogenshakes anscheinend auch vorbei ist, habe ich heute auch viele gesehen, die sich zur Begrüßung voneinander wegdrehen und mit den Hintern zusammenstoßen. Das ist zumindest lustig. Für Zuschauer und Postupser gleichermaßen.

Zudem gibt es selbstverständlich auch expressionistisches Winken oder kleine Tänze. Hübsch. Allerdings konnte ich auch zweimal beobachten, wie sich Menschen zum hallo sagen mehrfach auf den Kopf gehauen haben. Also jeder auf den eigenen. Das war seltsam.

Andere haben statt Umarmung einmal die Maske auf und wieder abgesetzt. Doch das eigenartigste, was ich beobachten konnte, war, wie sich zwei gegenseitig ihre Handys gezeigt haben, auf deren Bildschirmen dann GIFs von schüttelnden Händen waren. 

Wo führt es hin, wenn das Schule macht? Zeigt man sich demnächst auch gegenseitig Küsse auf Handys? Und dann Bilder von Ohrfeigen, weil das Bild vom Kuss als übergriffig empfunden wurde? Welche anderen zwischenmenschlichen Begegnungen werden in Zukunft durchgeführt, indem man sie sich auf dem Handy zeigt? Macht das noch Spaß?

Doch noch schwieriger als das Begrüßen, scheint das Tschüß sagen. Es zeigt sich, daß ein Verabschieden ohne Berührung oft irgendwie herzlos wirkt. Häufig sehe ich Menschen, die ratlos, bemüht lächelnd voreinanderstehen und dann einfach weggehen. Beide offensichtlich mit einem schlechten Gefühl. Das ist nicht schön.

Daher plädiere ich für die Einführung von absolut virendichten Verabschiedungssäcken. Die man sich nur zum Umarmen schnell über den Kopf ziehen kann. Wenn man sowieso immer Maske und Desinfektionsspray dabeihaben muss, wäre so Begrüßungs- und Verabschiedungssack doch auch kein großes Zusatzgepäck. Mal so als Anregung. Was denkst Du?

Sei umarmt

Horst

#49 Die Husche

Lieber Horst,

was schwebt Dir vor, so ein klassischer Jutesack oder mehr was Modernes? 
In beidem sehe ich sehr gut aus, ich habe es gerade mal ausprobiert, das kaschiert auch ungemein.  

Ich bin in puncto Begrüßung jedenfalls für Lösungsvorschläge aller Art offen. 
Wenn ich derzeit gute Freunde auf der Straße oder im Park treffe, ist es immer die gleiche traurige Szene:  ich laufe freudig auf sie zu – und erstarre dann mit ausgebreiteten Armen mitten in der Bewegung. So stehe ich dann erstmal da, in visueller Umarmung quasi. „Das sieht immer aus, als würdest Du gerade zur Pirouette ansetzen“, sagt mein Sohn, „wie zur Salzstange erstarrt.“ 

Mit Redewendungen haben wir manchmal so unsere Schwierigkeiten. Aber auch mit diesem Bild konnte ich was anfangen. 

Heute früh hatte ich mit Blick in den Himmel gesagt: „Oh, ich glaube da kommt eine Husche!“
Er schaute darauf sehr skeptisch und folgte fragend meinem Blick. 
„Na… ein kurzer Regenschauer“ ergänzte ich deshalb, „eine Husche eben!“ 
„Ach so, ich hab jetzt nach irgendeinem Insekt geguckt!“ Auch eine schöne Idee. Eine Husche eben. Wir befanden dann, dass es auch ein guter Codename für die wirre Nachbarin von schräg gegenüber wäre, die wir manchmal beim Einkaufen treffen. 

Ich höre mich im Moment aber manchmal auch wirklich seltsame Sachen sagen.  
Dass es zieht, zum Beispiel. Kannst Du Dich erinnern, dass es in unseren jungen Jahren jemals gezogen hätte?! Zugluft, das war doch was für alte Leute. Ich habe das Nina mal erzählt, als wir neulich telefonierten.  „Ich weiß genau, was du meinst“ meinte sie. „Ich habe vorhin das Radio angemacht und dabei laut gesagt: Ich habe jetzt Lust auf was Flottes!“ 
Es ist immer wieder das Ridiculus-Prinzip, das uns rettet: Gemeinsam darüber zu lachen macht, dass das schlechte Gefühl verpufft. 

Was sonst so los ist? Nicht viel. 

Ich gehe immer wieder mal raus, am Flieder riechen. Ähnlich wie andere Leute eine rauchen gehen. Kette riechen, quasi. Ich liebe diesen Duft. 

Und so oft ich kann, gehe ich spazieren. Alle gehen spazieren. Lili sagt, der Hund ist schon ganz fertig, weil alle ständig mit ihm spazieren gehen. 

Mein Handy ist jetzt unter die Verschwörungstheoretiker gegangen. Wenn ich Vermummung schreibe, will es immer Verdummung daraus machen. 
Apropos, ich hatte doch erzählt, dass ich jetzt meine Lieblingsmaske gefunden habe. Ein Foto hänge ich an. 

Ach und guck, immerhin schon Text #49 heute, Horst. Kurz vor 50, wie im wirklichen Leben. Da darf man doch schon mal reden wie ne Alte?

Mit einem liebevollen Kniff in die Wange – zumal aus sicherer Entfernung –
grüßt Dich

Susanne

PS:  Ohrwurm des Tages: I´m on the Highway to Health!

#50 Endlich Fuffzich

Liebe Susanne,

Nun ist dies also tatsächlich schon der fünfzigste Brief, den wir uns schreiben. Also jeder 25.

 Das heißt, das geht jetzt schon über sieben Wochen so. Mir kommt es mal kürzer, mal sehr viel länger vor. Manchmal aber auch wie sieben Wochen.

 Wie bei so vielen Menschen ist auch mein Verhältnis zum Kalender mittlerweile eher so wie zum Alkohol. Ich brauche ihn nicht, aber ab und an hilft er mir schon. 

Um mich zu erinnern. Viele trinken um zu vergessen, ich trinke, um mich zu erinnern. 

An die Zeit, wo ich noch mehr und sorgloser getrunken habe. Ja teilweise war sogar meine einzige Sorge, daß ich zu viel trinken würde. Mir fehlen meine alten Sorgen manchmal sehr. Tatsächlich. Ich glaube, wenn man mich heute fragen würde, was ich aus meinen zwanziger Jahren am meisten vermisse, würde ich sagen: „Die Sorgen, die ich damals hatte.“

In Deinem ersten Brief schriebst Du, daß am nächsten Tag die Läden schliessen sollten. Deshalb haben viele noch schnell etwas auf Vorrat erworben. Du ein Fahrrad. Ein Hamsterrad, wie Du es damals so schön formuliertest. 

Ich erinnere mich noch gut an den Tag. Ein bisschen lag auch so eine Ferienstimmung über der Stadt. Heute sagt keiner mehr Ferien zu diesem Corona-Ding. 

Herr Scholz und Frau Gates haben gestern unabhängig voneinander geäußert, daß es wahrscheinlich noch zwei Jahre dauern werde, bis wieder eine Art Normalität Einzug halten könne. Ich weiß nicht, wo die beiden gedenken, diese zwei Jahre zu verbringen. Aber außer den zweien kenne ich niemanden, der diesen Zustand noch zwei Jahre durchhalten würde.

Ich wäre sehr froh, wenn man sich drauf einigen könnte, daß so ein weltfremder, jahrelanger Dauerausnahmezustand sicher keine vorstellbare Option ist. Zumindest nicht für normale Menschen. Doch mich fragt ja keiner. Was wahrscheinlich auch ganz gut ist. Schliesslich antworte ich sowieso meistens nur, wenn keiner fragt. Denn auf die ganzen Fragen hätte ich ja auch keine Antworten. Doch solange mich keiner fragt, fällt mir das Antworten leicht.

50 Tage Corona-Lockdown. Es gab schon auch ein paar gute Dinge in dieser Zeit. Deine Briefe zum Beispiel. Dafür möchte ich Dir tatsächlich an dieser Stelle einmal ganz offiziell und herzlich danken.

Dein Horst

P.S.: Gerade sagte jemand in Park: „Wenn mein heutiger Gemütszustand ein Obst wäre, wäre es ein Apfelgriebsch.“ Ich wusste genau, was er meinte.

#51 DJ Housearrest legt auf

Lieber Horst,

den Fünfzigsten begehen am 05.05. – wer hat das schon? 
Ich finde auch, wir haben uns ganz gut gehalten. Und nach Deinem gestrigen Brief hing mir dann doch tatsächlich ein kleiner Tropfen im Augenwinkel. Aber vielleicht war das auch der Regen. Ja, genau, so wird es gewesen sein, es hat ja viel geregnet gestern. Gehagelt sogar.

Kaum ist der Mai da, schon kommt das Aprilwetter, oder? Ich kann das ja gut haben. Wenigstens was los am Himmel, wo doch sonst alles so gebremst ist derzeit. Denn bei allem Tröstlichen des Frühlings – dieses andauernde Blau scheint mir angesichts der Sorgen der Welt manchmal auch ein bißchen übertrieben. Ein ehrlicher Regen zwischendurch ist wohltuend.
Und wenn es dann vielleicht doch mal eine Träne ist – die vermutlich auch…

Am allerliebsten würde ich mir ja den Himmel gerade vom Ostseestrand aus begucken. Den bräsigen Kopf ein bißchen durchpusten lassen und aufs Meer starren. 

Ich erinnere mich an meinen letzten Ostseetrip, Anfang letzten Jahres. Das war im Winter, absolut außerhalb jeder Saison. Deshalb hatte ich auch nicht die Bohne damit gerechnet, dass dort ausgerechnet an dem Wochenende eine große Feier angesagt war. 
Die Fressmeile erstreckte sich den gesamten Strand entlang, bis zum Leuchtturm. Aus der ganzen Region waren Menschen angereist, die nun hackedicht zur Schlagermusik johlten, welche aus den diversen Boxen schepperte. Ich erinnere mich unter anderem an den fröhlichen Refrain „Geh ma Bier hol´n, du wirst schon wieder hässlich“.  
Dass ich an der Ostsee war, merkte ich in erster Linie daran, dass auf den Wurstbuden Möwen saßen statt Tauben. 

Einige Schreckstunden und diverse Fluchtgedanken später hatte ich dann beschlossen, mir die Laune nicht vermiesen zu lassen, meinen Erholungsbedarf wegzuatmen und einfach mitzufeiern. 

Am Abend gab es eine große Party im Zelt am Strand, „DJ Housearrest“ legte auf (der hieß wirklich so) und gab alles, um ein bißchen Stimmung zu machen. Es gab die üblichen Fragen an die Menge „Hände hooooch, wer ein echter Rostocker ist!“ und so weiter. Nur bei „Hände hoch, wer nicht aus Deutschland ist!“, traute sich niemand, sich zu melden. Danach spielte er unter viel Beifall „einen Protestsong gegen das Nichtraucherschutzgesetz“. Ein Smokie Medley. Ich wollte mir was zu trinken holen, ich erinnere mich, auf den handgeschriebenen Preislisten standen Bier, Weinschorle, Caipirinha, Sex on the Beach und AFG zur Auswahl. 
AFG kannte ich noch nicht, das klang interessant, ich fragte die Frau am Tresen, was genau das sei. Sie guckte wie ein Schaf. 
„Na, alkoholfreie Getränke“ sagte sie dann, „AFG halt.“ Später merkte ich, dass sie immer guckte wie ein Schaf, aber in diesem Moment fühlte ich mich halt einfach sehr gemeint. Und darüber kann man schon auch mal einen Moment nachdenken. Ich meine, andere müssen womöglich fragen, was sich hinter den Namen der Cocktails verbirgt, das einzige, was ich nicht kenne, sind die alkoholfreien Getränke.

Um es kurz zu machen, ich bestellte daraufhin alles außer AFG, in unterschiedlicher Reihenfolge, trank mir die Musik schön und hatte eine sehr lustige Party. Ich erinnere mich verschwommen, dass ich irgendwann lauthals „Ich will zurück nach Westerland“ mitsang, was für Warnemünde bei näherer Betrachtung doch ein recht seltsames Lied ist.

Am nächsten Morgen, als ich den Frühstücksraum der kleinen Pension betrat, in der ich untergekommen war, hörte ich die eine Angestellte zur anderen bei meinem Anblick raunen: „Oha, da kommt ein doppelter Espresso.“ Das fand ich sehr schön.

Mein Bruder und seine Freundin gehen beim Mexikaner immer Cocktails trinken. Wenn sie da zur Tür reinkommen, ruft der Barmann schon von Weitem: „Zwei Zombies!“
Das muss man ja auch erstmal aushalten können. 

Au weia, jetzt habe ich mich ja heute ganz schön verplaudert.
Aber so ist das halt im Leben. Wenn nix mehr geht, zehrt man von den Erinnerungen. 

Mit einer frischen Ostseebrise aus Südwest grüßt Dich
ganz herzlich

Susanne  

PS: Wäre mein heutiger Gemütszustand ein Obst, es wäre ein Erdbeer-Daiquiri.

#52 Wo spuken sie denn?

Liebe Susanne,

bald spielt die Bundesliga wieder. Hurra! 

Als Werder Bremen-Fan hatte ich ja eigentlich gehofft, man würde die Saison abbrechen, den Abstieg aussetzen und den Meister auslosen. So hätte dann ja auch Hertha mal eine realistische Titelchance gehabt. 

Vielleicht war dieses Handyvideo von Kalou tatsächlich ein letzter verzweifelter Versuch diesen unkonventionellen, aber eben doch einzig möglichen Weg zur Meisterschaft noch offen zu halten. Wenn wieder gespielt wird, gewinnen doch sowieso immer dieselben. Im Sinne der Spannung wäre es besser gewesen mal aufs Fussballspielen zu verzichten. Dann hätte ich den Sport auch wieder interessant gefunden.

Wobei ich kürzlich auch von einem anderen Werder-Fan mit den schönen Worten getröstet wurde. „Mal angenommen, es ist klar, daß Dein Verein absteigt. Und Du kannst aber entscheiden in welcher Saison. Dann ist diese verkackte Corona-Spielzeit doch quasi perfekt zum absteigen. Im Prinzip haben wir da wieder mal totales Glück.“ Ich habe beschlossen es von nun an auch so zu sehen.

Nun also Geisterspiele. Wenn es nach meiner Nichte ginge, wären umgekehrte Geisterspiele noch viel toller. Als sie im Alter von fünf Jahren zum erstenmal mit ihrer Mutter ins Stadion durfte, hat sie hinterher geurteilt: „Alles war total super. Außer dem Fussballspiel.“

Das fand sie zu lang, zu weilig, zu doof und alles in allem eigentlich auch überflüssig. Vielleicht sollte man das nach Corona mal machen. Ins Stadion gehen. Dort zwei Stunden lang nichts gucken. Dann Stadionwurst, zusammen singen und wieder nach Hause. Meiner Nichte würde es gefallen. Mir wahrscheinlich auch.

Falls sich jetzt bei diesen Geisterspielen alle Bundesliga-Profis gegenseitig anstecken, sollte man die Übertragungen deshalb aber auch nicht wieder sofort abbrechen. Wennschon dennschon. Stattdessen könnte man doch dann aus den Bundesliga-Quarantäne-WGs senden. So hätten die Vereine ihre Fernsehgelder und wir Unterhaltung. Und um Gefahren für die Filmteams zu minimieren könnten ja die Spieler sich größtenteils mit den Handys einfach selber filmen. 

Dazu sind sie locker in der Lage und wahrscheinlich wäre es sogar spannender als die normale Bundesliga-Saison. Also ich würde es gucken.

Allseits gutes Programm
wünscht Dir

Horst

#54 Der Herr Major

Liebe Susanne,

Anlässlich des Tages der Befreiung musste ich an das Demenz-Pflegeheim denken, in dem mein Vater seine letzten Monate verbrachte. Dort gab es nämlich einen Mann, der mich immer mit „der Herr Major“ ansprach. Das fand ich, offen gestanden, fast schmeichelhaft. Immerhin sah er in mir einen Offizier. Das war ja schon was. 

Allerdings hat er mir dann auch stets einen Lagebericht gegeben. Die Lage war desaströs. Für einen Großteil der Patienten in diesem Hospital schloss er einen weiteren Dienst an der Waffe aus. Im Gegenteil. „Vielen von ihnen werden wir leider nicht mehr helfen können.“ Diesen Satz wiederholte er wie einen Refrain und raunte mir dann zu. „Einige von denen wissen gar nicht, wo sie hier sind und haben sich längst in eine völlige Phantasiewelt geflüchtet.“ Er habe daher beschlossen, einfach ihr Spiel mitzuspielen und ihnen gegenüber den Krieg gar nicht mehr zu erwähnen. Aus Barmherzigkeit. 

Das wäre eigentlich ziemlich lustig gewesen, hätte ich nicht von einer der Pflegerinnen erfahren, daß dieser Mann ungefähr jede zweite Nacht durchschrie. „Sie werden eben wieder zu Kindern,“ meinte sie. „Sie schlafen einfach nicht mehr durch.“

Ein wirklicher Tag der Befreiung war der achte Mai wahrscheinlich nur für die nachfolgenden Generationen. Die, die diese Barbarei erlebt und sogar überlebt haben, blieben eben doch ihr Leben lang Gefangene dieses Krieges. Früher oder später zumindest. Täter wie Opfer. 

Klar fühlt es sich vor diesem Hintergrund unwirklich an, heute von den Corona-Einschränkungen genervt zu sein. Insofern hätte es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt für diesen Feiertag geben können.

Ich habe in diesem Demenz-Pflegeheim seinerzeit übrigens immer versucht, mich auf die Erinnerungsrealitäten der Patienten einzulassen. Auch wenn diese meist nicht leicht zu verstehen und praktisch durch die Bank furchtbar waren. Ich versuchte zu ergründen, was in den Alten vorging. Erfolglos. Als wenn sie das selbst gewusst hätten.

Umso mehr bewunderte ich eine Schwester, die genau das Gegenteil tat. Sie sagte den Patienten einfach, was in ihnen vorging. Und die glaubten ihr das. Sie wusste, was ihre Leute sich wünschten, obwohl die selbst keine Ahnung davon hatten. Sie ging auf die Alten zu und sagte ihnen: 

„Sie haben Hunger!“ „Sie haben Durst!“ „Sie sind müde!“ „Sie möchten einen Spaziergang machen!“ „Sie hören gerne diese Musik!“ 

Anfangs fand ich das schroff und übergriffig. Bis ich merkte, daß sie immer recht hatte. Sie war wie ein Amazon-Algorithmus. Nur ohne Amazon und ohne Algorithmus. Sie wusste einfach immer von allein, was die Leute sich wünschten und irrte sich nie. Alle mochten sie. Ich bewunderte sie sehr und hätte mir gewünscht, auch in den Genuss ihrer Fähigkeiten zu kommen. 

„Sie wollen ihr zweites Staatsexamen machen!“ Hätte sie mir das gesagt, hätte ich garantiert mein Studium vernünftig abgeschlossen. Da bin ich sicher. Und ich wäre damit sehr zufrieden gewesen. Davon bin ich auch überzeugt. 

Ob es allerdings gut für mich und mein weiteres Leben gewesen wäre, wenn ich mein Studium abgeschlossen hätte? Da habe ich erhebliche Zweifel. 

Und das lässt mich dann doch wieder nachdenklich zurück.

Mit kryptischen Grüßen 

Horst

#55 Was dich nicht glücklich macht

Lieber Horst,

ein guter Freund hat mir Anfang des Jahres eine Postkarte geschickt mit dem Spruch darauf: 
„Was dich nicht glücklich macht, kann weg!“ 
Ich habe sie an den Kühlschrank gebappt, weil mir der Ansatz gut gefiel, und heute gerade wieder drüber nachgedacht.

Corona könnte dann jetzt weg, Horst. 

Die aktuellen Lockerungen stimmen mich zwar verhalten fröhlich – aber verhalten überwiegt. Die Skepsis bleibt unsere stete Begleiterin, der Übermut hat Pause.
Jetzt patrouillieren auch hier am Kanalweg Polizeiautos, das hattest Du auch schon mal beobachtet, wie dann die Massen immer ganz eng zusammenrücken, um sie durchzulassen. Und beim Einkaufen neulich hat einer seine Maske kurz abgenommen, weil er niesen musste. Danach hat er sie wieder aufgesetzt. 
Bei solchen Szenen gehen mir immer so ungeduldige Comiclaute durch den Kopf (Gnggnggng!) und ich würde mir gerne mit der Hand vor die Stirn schlagen, aber ins Gesicht fassen darf man sich ja gerade nicht. 
Möglicherweise bin ich selbst ja auch keine Heilige, was Hygienevorschriften anbelangt – aber immerhin konsequent genug, um mir hier jetzt nicht in aller Öffentlichkeit an die eigene Nase zu fassen.
Ha!

Momentan reden ja gerade alle über diese vermaledeite 50. Versteh mich nicht falsch, ich habe das mit den Neuinfektionen pro Einwohner von der wissenschaftlichen Dimension her schon genau verstanden. Und dennoch zuckt etwas in mir jedesmal ganz unwissenschaftlich zusammen, wenn von 50 als Obergrenze gesprochen wird.
Ich gehe immerhin auf die Fünfzig zu, wie man es gemeinhin ausdrückt. Wobei ich diese Formulierung bei näherer Betrachtung auch nicht wirklich stimmig finde. Ich gehe nämlich überhaupt nicht auf die Fünfzig zu, die blöde Kuh kommt mir entgegen! Aber das ist ein anderes Thema.

Älterwerden. Älterwerden kann auch weg. 

Bei Deiner wirklich sehr berührenden Geschichte vom Herrn Major ist mir gleich meine Tante Gisela eingefallen. Tante Gisela hatte auch Schwierigkeiten mit dem Älterwerden und irgendwann offenbar beschlossen, bestimmte Veränderungen an sich einfach nicht mehr wahrzunehmen. Noch in ihren späten Achtzigern, als sie schon sehr lange komplett schneeweißes Haar hatte, war sie der Meinung, ihr „Blondton“ sei „eine Nuance heller geworden“. Damit kokettierte sie immer ein bißchen. „Andere müssen ja färben in meinem Alter, aber ich…“ sagte sie dann stolz. Ich glaube, auch das ist Resilienz. Nie hätten wir ihr widersprochen.

Meine Tante Gisela war die Schwester meiner Mutter, an die ich heute natürlich auch schon gedacht habe: Es ist Muttertag! 
Oh, was hat sie nicht alles mitgemacht… Selbstgemalte Bilder, getöpferte Aschenbecher (sie rauchte gar nicht), Gutscheine für Hilfe im Haushalt, die wir nie einlösten… Die Krönung war sicher, dass wir ihr in einem Jahr mal ein Waffeleisen schenkten. Wir fanden das eine tolle Idee, wir aßen sehr gerne Waffeln.

Auch aufgrund dieser etwas deprimierenden Erinnerungen wird der Muttertag in meiner Familie heute nicht wirklich begangen. Bei uns ist es ohnehin eher … – sagen wir so, als der Mann mal Basilikum eingekauft hatte, fragte der Kleine „Oh, hast du Mama wieder Blumen mitgebracht?“ 
Aber die Rose auf dem Balkon ist über Nacht von ganz allein aufgeblüht, der Mann hat Kaffee gemacht , die Kinder haben ganz entspannt den Frühstückstisch gedeckt und etwas in der Art von „Herzlichen Glückwunsch zu Deinen wohlgeratenen Kindern!“ gesagt. Das war wirklich sehr schön.
Zum Dank gehe ich vielleicht glatt mal gucken, ob ich das alte Waffeleisen finde. 

In diesem Sinne heute auch mal
glückliche Grüße von

Susanne

#56 Ich bin nur wegen den Blumen hier

Liebe Susanne,

auch wenn der Muttertag gestern war, möchte ich Dir noch von einer erstaunlichen Begebenheit berichten.

Ein VW Tiguan hält vor dem Blumenladen Mehringdamm/Ecke Bergmannstrasse, lässt die Scheibe runter und brüllt vom Beifahrersitz die ziemlich lange Warteschlange an:

 „Ihr wisst aber schon, daß dieser Scheiß-Muttertag, den ihr da feiert, von den Nazis kommt, oder?“

Alle sind perplex. Außer einer älteren Dame, die nach kurzem Überlegen mit bemerkenswert tragender Stimme antwortet:

„Abgesehen davon, daß der Muttertag in den USA erfunden wurde, werde ich in dem Moment aufhören ihn zu begehen, wo Du aufhörst, die Autobahnen zu benutzen.“

Nachdem sich der bedröppelte Tiguan mit runtergelassenem Fenster vom Bordstein gemacht hatte, hat sie uns anvertraut: 

„Eigentlich habe ich selbst ja auch gar nichts mit dem Muttertag am Hut. Ich bin nur wegen den Blumen hier. Und außerdem habe ich manchmal einfach Lust, böse zu den Blöden zu sein.“

Böse zu den Blöden sein. Welch schöne Formulierung. Wenngleich einen das böse zu den Blöden sein, ab und an auch selbst zum Blöden machen kann.

Als ich das letzte Mal böse zu einem Blöden war, habe ich mich zumindest auch nicht mit Ruhm bekleckert. Es passierte im Zug. Nach einem Sitzplatz-Disput. Ich war im Recht, aber er hatte den Platz, weil der Klügere nachgibt. 

Woran man sieht, was man davon hat, der Klügere zu sein. Nämlich ein schlechtes Gefühl und keinen Tischplatz. Ihm hingegen ging es sichtbar sehr gut. 

Als wollte er mich ärgern, hat er den Tisch dann gar nicht benutzt und nur gelesen. „Das zweite Zeichen“, ein Krimi von Ian Rankin. Also habe ich im Affekt den Roman gegoogelt und ihm kurz vor meinem Aussteigen den Mörder verraten. Als er mich nur verwundert angestarrt hat, habe ich ihm auch noch die Herleitung der Auflösung erläutert und geschlossen mit den Worten: „Schade, ist eigentlich ein ziemlich gutes und spannendes Buch, aber jetzt, wo sie alles wissen, wird es ihnen langweilig vorkommen.“

Woraufhin er tatsächlich ankündigte, mir gleich eins in die Fresse zu geben. Weshalb ich ihn aufklärte, daß ich mir den Mörder und die Herleitung nur ausgedacht hatte, um ihn zu ärgern. Denn selbst wenn man absichtlich böse ist, gibt es Grenzen.

 Eigentlich zumindest. Leider war es nämlich auch gelogen, daß ich mir den Mörder und die Herleitung ausgedacht hatte. Da ich es noch perfider fand, wenn er nun weiterlesen und erst nach und nach feststellen würde, daß er alles schon wusste. Von mir. Und mir jetzt keins mehr in die Fresse geben konnte.

Womit ich zusammenfassend sagen kann, daß ich mich hier wohl ziemlich blöde verhalten habe.

Blöde, aber reuevolle Grüße

Horst