#2 In der Drogerie

Liebe Susanne,

folgendes kleine Erlebnis von Gestern möchte ich Dir nicht vorenthalten.

Der Drogeriemarkt ist eine Stunde vor Ladenschluss dann doch ziemlich leergeräumt. Ein junges Paar betrachtet ratlos die leeren Toilettenpapierregale. 

„Was machen wir denn jetzt?“, fragt sie.

„Weiß nicht,“ antwortet er. Kurze Zeit später sehe ich sie lange und nachdenklich vor den Servietten stehen. Es sind leider nur noch die Kindergeburtstagsmotive übrig. Da gab es bislang wohl doch noch irgendwie eine Hemmschwelle.

Alle sagen, man soll sich nicht übertrieben bevorraten. Das finde ich ja auch. Und die Familie erstrecht. Als ich kürzlich in unserer Küche meinen Rucksack auspackte und auch zu meiner eigenen Überraschung feststellen musste, daß ich offensichtlich sechs Packungen passierte Tomaten gekauft hatte, war die Familie entsetzt:

„Was machst Du denn? Sechs Packungen? Du hast sechs Packungen passierte Tomaten gekauft? Spinnst Du? Hat Dich jemand dabei gesehen?“

Ich versuchte sie zu beruhigen. „Nein, nein. Ich habe alle in unterschiedlichen Geschäften gekauft.  Niemand wird Verdacht schöpfen.

-Na gut. Aber trotzdem. Was sollen wir denn mit den ganzen passierten Tomaten?

-Weiß nicht. Aber vielleicht können wir sie, wenn es richtig ernst wird, gegen Zigaretten tauschen.

-Warum? Keiner von uns raucht?

-Ja gut. Einerseits richtig. Aber andrerseits sollten wir uns auch von der Vorstellung verabschieden, alles planen zu können.“

Am Wochenende in Leipzig bin ich noch auf einen Zug gehastet. Ich hab ihn gerade so geschafft. Also eigentlich, denn als ich am Bahnhof ankam, musste ich feststellen, daß er ersatzlos gestrichen war. Habe deshalb einen Bahnmitarbeiter gefragt: „Oje, ist das wegen Corona?“

Er hat mich sehr freundlich und traurig angesehen, um dann emotionslos zu antworten.

„Nein, nein, das ist einfach ganz normal wegen Bahn.“

Was mich beruhigt hat. Man ist ja dieser Tage immer froh, wenns nicht Corona ist. Bei einem benachbarten Telefonierer habe ich gestern den Satzfetzen aufgeschnappt: „War aber dann doch Gott sei Dank nur eine Lungenentzündung…“ Aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Hoffe ich mal. Wegen des Mindestabstands kriegt man die Gespräche der Anderen ja oft gar nicht mehr richtig gut mit. Auch so ein sozialer Verlust, der kaum thematisiert wird.

Doch wie dem auch sei, Susanne. Zum Schluss für Dich noch was Schönes. Nämlich meine Lieblings-Corona-Meldung bislang:

„Nur ein Prozent der Bevölkerung besitzt 90 Prozent des gesamten Klopapiers.“ Die Kräfteverhältnisse verschieben sich.

Bis bald,
Horst

#4 Und dann geht es wieder

Liebe Susanne,

gerade habe ich das Paar von neulich aus der Drogerie wieder gesehen. Diesmal standen sie vor den leeren Konservenregalen im Supermarkt. Unterm Arm hatte er einen großen Beutel mit Kindergeburtstagspapierservietten. Es gab nur noch einige Dosen mit hellgrauen Königsberger Klopsen auf dem Dosenfoto. Erneut sind die beiden sehr nachdenklich.

Er: „Das sieht jetzt aber wirklich super eklig aus.“

Sie: „Ja gut, aber wenn Du richtig Hunger hast…“

Er: „Genau, dann gucke ich einfach dieses Bild an und dann geht es wieder.“

Sie nehmen eine Dose.

In den Regalen der Märkte erkennt man jetzt tatsächlich mal die echten Loser-Lebensmittel. Die, die selbst zu Corona-Zeiten keiner will. Auch interessant.

In China verpflichten sie angeblich jetzt Bürger eine Corona-Kontroll-App zu installieren, die man sich im Prinzip wohl wie eine virtuelle elektronische Fussfessel vorstellen muss. Mit der können dann Ausgangs- oder Regionalsperren überwacht werden. Als Maria davon hörte, regte sie an sich einen Hund anzuschaffen. Dann dürften wir auch im Falle einer Ausgangssperre noch zweimal täglich raus. Ich gab zu bedenken, daß wir dann aber auch einen Esser mehr hätten und das einzige, was wir richtig im großen Stil bevorratet haben, sind ja passierte Tomaten. Ob das einem Hund gefällt? Sie meinte, wenn wir einen Hund hätten, müssten wir natürlich ganz anders vorsorgen. Das gab mir zu denken. Wenn ich ein Hund wäre, dürfte ich also trotz Ausgangssperre raus und mir viel größere Vorräte anlegen? Welche Vorteile könnte es noch haben, ein Hund zu sein? Wie schwierig wäre es wohl, behördlicherseits als Hund anerkannt zu werden?

Am zwei Meter entfernten Nebentisch im Café beklagte sich gestern ein Mann wegen des Home-Office, zu dem er jetzt verdonnert wurde: „Die ganze Familie beobachtet jetzt, was ich den ganzen Tag mache. Und ich kann spüren, wie sie denken: Und das ist alles? Mehr macht der nicht? Und darüber klagt der ständig, was das für ein Stress sei? Das ist ja lächerlich. Ich überlege ständig, was ich noch arbeiten könnte, um die Familie zu beeindrucken. Diese soziale Kontrolle ist die Hölle…“

Betrachten deshalb große Unternehmen in Asien immer alle Angestellten als Familienangehörige? Da sie wissen, nichts transportiert und lenkt den Druck besser als eine Familie? Ich glaube, wenn mal die ganze Corona-Geschichte vorbei ist, werden viele mit einem ganz anderen Glücksgefühl, einer ganz anderen Dankbarkeit wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Guck Susanne, jetzt habe ich wieder einen schönen, sehr positiven Schluss gefunden.

Horst

#6 In der Drogerie (schon wieder)

Liebe Susanne,

In unserem Drogeriemarkt, in dem bis gestern ein Wachmann stand, stehen nun zwei. Beide wirken allerdings überhaupt nicht so, als hätten sie Interesse daran, einen Streit zu schlichten. Sie sind wahrscheinlich mehr für das gute Gefühl da. So ähnlich wie Versicherungen. Die hat man ja auch im wesentlichen für das gute Gefühl versichert zu sein, falls mal was passiert. Wenn denn allerdings wirklich mal was passiert, verschwindet dieses gute Gefühl meist sehr schnell. Da sich im Regelfall ziemlich zügig herausstellt, daß das jetzt ja so einfach mit dem Versicherungsschutz nun auch wieder nicht ist. Aber bis zum Eintreten eines Schadensfalles funktionieren die meisten Versicherungen wirklich ganz ausgezeichnet. Also im Hinblick auf das gute Gefühl, versichert zu sein. Tadellos.

Gestern nun wurde ich zum ersten Mal Zeuge einer schon sehr aggressiven Auseinandersetzung zwischen zwei Männern in einem Geschäft. Auslöser war wohl die Annahme des Einen, der Andere wäre zu dicht neben ihn getreten. Während die beiden Wachleute diese Situation beruhigen wollten, indem sie sich unauffällig verhielten, beobachteten wir Kunden fasziniert den heftigen Disput. Das Besondere: Obwohl die unbändige Wut aufeinander in ihren Gesichtern stand, waren die zwei Männer sehr darauf bedacht den Mindestabstand immer einzuhalten und sich auf keinen Fall zu berühren. Es war eine Art kontaktlose Schlägerei.

Als ich zuhause der Familie dies als einen positiven Effekt der Krise zu verkaufen suchte, also daß die Menschen sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr trauen. jemand anderem ins Gesicht zu schlagen, desillusionierte mich die Tochter sofort:

„Dann werden die eben Handschuhe anziehen.“

Ich fürchte, sie hat recht. Aber vielleicht wäre das eine Möglichkeit gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern. Indem man Privatpersonen für die Dauer der Krise das Tragen von Handschuhen in Geschäften verbietet.

Beim Zahlen im Drogeriemarkt bin ich übrigens wieder dem Pärchen begegnet, das offensichtlich genau denselben Einkaufsrhythmus hat, wie ich. Diesmal kauften sie unter anderem eine große Tube Wundsalbe. Wahrscheinlich hatte der Plan Toilettenpapier durch Servietten zu ersetzen doch auch Schwachpunkte. Ich habe mich aber nicht getraut zu fragen. 

Möge Dein Papier sanft zu Dir sein

Horst

#8 Ein guter Plan ist schon das halbe Scheitern

Liebe Susanne,

viele gute Glückwünsche für Deinen Sohn. Schön, daß ihr noch zu feiern versteht. Wer Sahne hat, braucht keinen Likör. Oder wie meine Tante immer sagte: „Dass wir Sahne auf unsere Früchte tun, unterscheidet uns von den Tieren.“

Uns ist aktuell die Sahne ausgegangen. Einige Zeitungen veröffentlichen ja aktuell Listen, wie unterschiedlich die einzelnen Länder in ihren Bevorratungsvorlieben sind. In der Schweiz beispielsweise waren Sahne und Pasta besonders begehrt. Die Amerikaner kaufen vor allem Waffen, wir Klopapier. Was sagt das über die einzelnen Nationen aus? In Frankreich werden in erster Linie Wein und Kondome gehamstert. Was ich einerseits für Angeberei halte und mich andrerseits zu der Frage veranlasst, ob den Franzosen denn nicht ihr eigenes Klischee auch irgendwann mal zum Hals raushängt? In Grossbritannien hingegen gibt es mittlerweile wohl praktisch gar nichts mehr. Das erste Produkt, das knapp geworden war, soll allerdings angeblich Hundefutter gewesen sein. Was man entweder sehr anrührend oder sehr verstörend finden kann. Doch ehe ich da jetzt zu lange drüber nachdenke, wechsle ich lieber das Thema.

Eine Freundin erzählte meiner Freundin am Telefon, daß ihr Mann jetzt ja viel zuhause sei und sich leider rund um die Uhr im Haushalt nützlich machen möchte. Das sei eine harte Probe für alle Familienmitglieder. Da durch ihn jede Haushaltstätigkeit den Status eines Projektes bekommt. Mit einer sehr langen Planungs- und Ankündigungsphase, nach der es bei ihm einen undurchschaubaren inneren Genehmigungsprozess durchläuft, an dessen Ende die Realisierung doch irgendwie im Sande verläuft. Wenn er noch länger helfe, würde der dadurch entstehende zeitliche Mehraufwand wohl dazu führen, daß sie noch jemanden für den Haushalt einstellen müssten, um alles schaffen zu können.

Dazu fiel mir wiederum der schöne Satz von Gerhard Polt ein: „Wenn wir uns alles, wozu wir nicht in der Lage sind, genehmigen lassen müssten, würden wir ja nie was nicht können.“

Ich weiß zwar nicht, wie das alles jetzt mit irgendwas zusammenhängt, aber wer weiß das heute schon.

Morgen ist auch noch ein Zusammenhang

Horst

#10 Die Jogginghose im Kopf

Liebe Susanne,

auch mir ist bereits aufgefallen, daß das spontane Applaudieren in der Stadt zugenommen hat. Mir gefällt das sehr. Heute vormittag habe ich an der Kreuzung Yorck/ Ecke Gneisenaustrasse einen Unfall zweier Radfahrer gesehen. Also den Unfall selbst habe ich nicht gesehen, nur die spätere Aufregung. Einer der beiden Männer hatte sich wohl leider wirklich was gebrochen. 

In jedem Falle haben die schaulustigen Passanten, als der Rettungswagen kam, tatsächlich geklatscht. Zuerst war es eigenartig, aber dann auf eine seltsame Art schön. Irgendwie befreiend. Alle applaudierten. Auch ich. Einfach so. Die Retter haben sich gefreut und sogar der Verletzte hat irgendwann gelacht und sich bedankt. 

Wir sollten das viel häufiger machen. Warum nicht mal ein Müllauto in einer Welle des Beifalls durch die Stadt rauschen lassen. Oder den Supermarktangestellten standing ovations an der Kasse bringen. Vermutlich wäre es ein Erlebnis für alle Beteiligten. Womöglich sogar ein nettes.

Doch noch was anderes beschäftigt mich. In der Zeitung habe ich gelesen, man soll sich im Home-Office nicht zu leger kleiden, da ein zu nachlässig oder gemütlich gewähltes Outfit durchaus Auswirkungen auf die Qualität oder Sorgfalt bei der Arbeit haben kann. 

Interessant. Diesen Aspekt habe ich beim Schreiben bislang eindeutig viel zu wenig beachtet. Welchen Einfluss auf meine Texte hätte es, wenn ich mich zum Verfassen derselben mal anders anziehen würde? Oder gar nicht? 

Habe bereits beschlossen, demnächst eine Geschichte von Anfang bis Ende splitterfasernackt zu schreiben. Das habe ich noch nie gemacht. Aber bald werde ich das mal tun. Einfach um zu sehen, wie die Geschichte dann so ist. Ob man der das anmerkt? 

Wahrscheinlich werde ich sie dann ganz normal vorlesen und hinterher dem Publikum erzählen, daß ich sie nackt geschrieben habe. Komplett. Im Moment kann ich das allerdings nicht machen. Da die Familie ja den ganzen Tag zuhause ist. Die würden das nicht schätzen. Sondern im Gegenteil. 

Ich könnte allerdings auch in verschiedenen Verkleidungen schreiben. Um zu schauen, wie sich das auf den Text auswirkt. Durch den Jahresrückblick habe ich ja einiges an Kostümen in meinem Fundus. Ich könnte einen Text als Eisbär verfassen, als Kim Jong Un, John Snow, Bischof Tebartz von Elst oder Xavier Naidoo. Habe ich alles noch da. Und hinterher das Publikum raten lassen, was ich in welcher Verkleidung geschrieben habe. Das wäre ein interessantes Experiment. Was denkst Du zum Beispiel in welcher Kleidung ich diesen Text in den Computer getippt habe? Pyjama, Küchenschürze oder Sporthose?

Möge der Stoff mit Dir sein

Horst

#12 Hefe ist das nächste Klopapier


Liebe Susanne,

der Chef mehrerer Edeka-Märkte hat in eine Interview gesagt, Hefe würde das nächste Klopapier werden. Das hat mich sehr irritiert. Ich kann mir das, offen gestanden nicht wirklich vorstellen und halte das auch für keine gute Idee. Eigentlich finde ich schon die Vorstellung eher eklig.Gut. Nur kurze Zeit später wurde auch mir klar, daß er damit gemeint hat, die Hefe wird knapp. Offensichtlich backen die Menschen gerade wie wahnsinnig selber Brot. Oder sie sind so wie ich und kaufen jetzt schon mal Hefe, weil sie denken, sie würden demnächst mit ihrer vielen Zeit, jede Menge spektakuläre Sachen machen. Dinge, die sie schon immer mal geplant haben. Wie Brot backen zum Beispiel. Oder ein Buch schreiben. Diesen Satz habe ich in den ersten Corona-Tagen tatsächlich  unterwegs ständig aufgeschnappt. „Ich könnte ja jetzt ein Buch schreiben.“ Ja, warum denn nicht? Über das Brot, das man nicht backt zum Beispiel.

Tatsächlich könnte man jetzt aber zu Mustafa gehen und einen Döner essen. Einfach so. Mustafa ist die Bude am Mehringdamm, wo die Schlange am Freitag um 16.30 Uhr normalerweise bis Tempelhof geht. Zu der Uhrzeit habe ich gestern dies Foto gemacht. Wer sich immer gefragt hat, wie dieser sagenumwobene Döner eigentlich schmeckt. Dieser Tage wäre die Gelenheit. Jetzt kriegen auch all die, denen immer die ganzen Touris in der Stadt auf die Nerven gegangen sind, mal einen Eindruck, wie die Stadt ohne Touristen ist. Also mir fehlen die Besucher schon. Sehr sogar. Denn wenn wir nicht bald wieder frische Touristen bekommen, werden wir Berliner vermutlich demnächst anfangen müssen über uns selber zu meckern. Und das kann ja wohl nicht Sinn der Sache sein.
Möge alle Deine Hefe aufgehen

Horst

P. S.: Es war übrigens meine Küchenschürze, in der ich vorgestern den Text geschrieben habe. Heute jedoch habe ich nur ein selbstgebackenes Brot getragen.

#14 Der Gegenwart fehlt aktuell das Fingerspitzengefühl

Liebe Susanne,

ich weiß gar nicht, ob unser Kühlschrank einen Namen hat. Falls doch, heisst er vermutlich „Alter“, denn häufig sagen Familienmitglieder nach dem Öffnen, beim Blick in den Kühlschrank: „Ey Alter!“

Wir haben allerdings einen Namen für unsere Geschirrspülmaschine. Sie heisst Inge Meysel, weil die Geräusche der Maschine oft an deren Art zu sprechen erinnern.

Aber was anderes: Ich wollte eigentlich schon lange erzählen, daß zu allem Überfluss nun bereits  seit einigen Wochen auch noch ein Marder irgendwo auf den Dächern unseres Straßenzuges wohnt. Wenn nun Wildtiere mitten in der Großstadt neben mir zu wohnen anfangen, finde ich das. von der Symbolik her, wirklich etwas zu plump. Ich denke, da fehlt der Gegenwart aktuell ein wenig das Fingerspitzengefühl. Wie in einigen anderen Bereichen auch.

Jede Nacht läuft das agile Tier mindestens einmal über unseren Balkon und guckt mich kurz an, als wollte es sagen: „Du weißt, warum ich hier bin.“

Aber ich weiß es gar nicht. Der Marder verstärkt nur meinen Verdacht, daß ich in eine Netflix-Serie reingezogen wurde und mich nun vor dem Cliffhänger am Staffelende fürchte.

Apropos Netflix. Immerhin habe ich wieder angefangen, Fremdsprachen zu lernen. Oder besser gesagt zu üben. Mit Serien. Also ich gucke Serien, die ich schon gesehen habe, jetzt nochmal mit einer anderen Sprachspur. Das ist oft interessant und lehrreich zugleich.

 Bei „Dark“, dieser etwas vertrackten deutschen Serie habe ich beispielsweise im Original mehrfach den Faden verloren. Als ich es auf türkisch geguckt habe, ergab aber plötzlich alles einen Sinn. 

Manchmal ändere ich die Tonspur aber auch schon beim ersten Gucken. Früher, wenn mir etwas nicht gefallen hat, habe ich den Sender gewechselt. Heute wechsle ich die Sprache. Es wäre schön, wenn ich auch einmal das Tier, das über unseren Balkon läuft, austauschen könnte. Aber dazu muss ich wohl erstmal herausfinden, wie diese Serie heisst, in der ich mich befinde.

Sana harika bir gün diliyorum

Horst

P.S.: Ich habe den Marder fotografiert, aber der hat mir wegen Schutz seiner Persönlichkeitsrechte die Veröffentlichung untersagt. Daher hier nur ein Symbolfoto.

# 16 Wenn’s wieder geht, geht’s los

Liebe Susanne,

auch von mir noch nachträglich die besten Wünsche zu Deinem Geburtstag. Mögen auch Deine weiteren Jahre so gut zu Dir sein, wie es die bisherigen waren.

Immerhin hast Du schon gefeiert. Neben vielen anderen Staus kommt auf uns ja auch eine Familienfestwelle im Herbst zu. Also wenn dann größere Zusammenkünfte wieder möglich sind. Nicht nur die vielen Feiern, die von jetzt oder dem Sommer auf den Herbst verschoben werden, müssen dann ja nachgeholt werden. Auch praktisch alle Menschen, die ich kenne, die bislang nicht sicher waren, ob sie mal was „Größeres“ machen wollen, sind plötzlich fest entschlossen. 

„Da man ja nun mal gesehen hat, wie schnell das gehen kann, daß es nicht mehr geht, sollte man  sobald es wieder geht, feiern was geht, solange es noch geht.“ 

Diesen Satz sagte gerade wortwörtlich meine Cousine am Telefon zu mir. Dann lud sie uns zu ihrer richtig großen Geburtstagsparty im Oktober ein. An einem Wochenende, an dem für mich jetzt schon zwei runde Wiegenfeste, eine grüne Hochzeit, eine goldene Hochzeit, zwei vom März verlegte Auftritte und eine Theatereröffnung liegen. Der eigentliche Geburtstag meiner Cousine wird übrigens im Mai gewesen sein.

Wir haben familienintern bereits beschlossen, daß wir uns wohl aufteilen müssen, um alle Feste in der zweiten Jahreshälfte zu schaffen. Wohlwissend, daß dies in Horrorfilmen immer der Anfang vom Ende ist. Also wenn man sich aufteilt. Aber da Familienfeiern schliesslich ein ganz anderes Genre als Horrorfilme sind, bleiben wir zuversichtlich. Falls die Einladungen sich allerdings noch mehr ballen, kommen wir wohl nicht drum rum, Leute einzustellen, die uns beim abfeiern helfen.

Wenigstens aber muss man sich im Moment mal keine Gedanken über Geschenke machen. Endlich sind die sonst als langweilig verschrieenen Gutscheine das angesagte Präsent der Stunde. Also eben Gutscheine für Restaurants, Cafés, Theater, Praxen und andere Läden, die im Moment geschlossen haben müssen und denen man mit so einem Gutschein ein bisschen über die Zeit hilft. 

Aber meine absolute Lieblingswerbeaktion kommt gerade von einem der tapferen Restaurants bei uns im Viertel, die immer noch Essen für Selbstabholer anbieten. Das wirbt nämlich mit: 

„20 Prozent auf alles außer Speisen und Getränke“

Da werde ich wahrscheinlich zur Belohnung für dieses Angebot meinen Geburtstag feiern.

100 Prozent von alles wünscht Dir

Horst

P.S.: Auf dem Foto trage ich übrigens eine elektrische Happy Birthday-Lichterkette. Sowas können ja nicht viele mit Würde tragen. Auch ich nicht. Aber für Dich mache ich es gerne.

#18 Ich sehe nur, was ich glaube

Liebe Susanne,

„Frisuren der Krise“ wäre eigentlich eine sehr schöne Idee für eine Fotoserie. Du solltest das im Auge behalten.

Ich kann da ja leider kaum mitreden. Die Krise meiner Frisur begann schon vor vielen, vielen Jahren und tragischerweise hat es da nie einen Rettungsschirm gegeben. Meine Frisur war allerdings auch nie systemrelevant.

Um etwas mehr Zeit für die persönliche Körperpflege zu gewinnen, haben wir in unserer Familie übrigens mittlerweile die Wahrnehmung der Außenwelt in Ressorts unterteilt. 

Also damit nicht mehr alle alles lesen müssen, hat nun jeder sein Spezialgebiet und informiert die anderen beim Morgen-Briefing nur über die neuesten Entwicklungen. 

Die Frau macht zum Beispiel dankenswerterweise den gesamten Bereich Trump/Bolsonaro, sowie andere Idioten und fasst dann nur kurz den größten Schwachsinn der Trottel für uns zusammen. Seit ich das alles selbst nicht mehr lesen muss, habe ich viel Zeit und auch Lebensqualität gewonnen. 

Die Kinder kümmern sich um den ganzen Komplex neue Fallzahlen, Statistik, aktuelle Gesetzeslagen der Kontaktsperre, Exit-Diskussion und so weiter und so fort. Die sind noch jung. Die macht das noch nicht so verrückt, wenn alle was anderes sagen und trotzdem jeder recht hat. Es ist toll, wie sie einem das alles jeden Tag in drei Minuten zusammenfassen und man sich dennoch absolut ausreichend informiert fühlt.

Ich hingegen hatte wieder großes Glück. Für mich blieb der Bereich der Verschwörungstheorien. Die Königsdisziplin in jeder Krise. Es gibt unfassbar viele im Netz. Neben den sehr langweiligen, vorhersehbaren und unoriginellen Theorien wie: 

Welteroberungsplan von China, 

DDR/Stasi/Erich Honneker-Verschwörung, 

Finanzblasenplatzen-Ablenkungsmanöver, 

Veganer-Angriff (da Corona-Viren meist durch den Verzehr von Tieren entstehen), Klopapierproduzentenverschwörung und all den Modellen, die darauf basieren, daß es gar keinen Corona-Virus gibt, 

habe ich aber auch eine aktuelle Lieblingsverschwörungstheorie.

Die basiert auf der Annahme, daß es schon in Kürze plötzlich einen Impfstoff gegen diesen Virus gibt, mit dem sich dann die gesamte Weltbevölkerung impfen lassen muss. In diesem Impfstoff ist dann aber noch was drin. Hier wiederum gibt es im Wesentlichen drei Varianten. Ein Wirkstoff der 

a) alle Menschen dieser Welt gehorsam macht (wem gegenüber ist umstritten) 

b) allen Menschen dieser Welt einen geheimen Sender implantiert (warum ist umstritten) 

oder c) die Gene aller Menschen dieser Welt so verändert, daß für sie eine andere Erdatmosphäre besser wäre. Nämlich eine, die den Bedürfnissen der Außerirdischen entspricht, die kurz danach auf der Erde landen (welcher Art diese Außerirdischen sind, ist umstritten, auch ob grundsätzlich freundlich oder feindlich)

Ich tippe bei dieser Auswahl natürlich auf c und halte das eigentlich auch für das wahrscheinlichste, da ich sowas ähnliches auch schonmal geträumt habe. Ein Traum, in dem ich übrigens sehr viele gepflegte lange Haare hatte. Womit sich der Kreis ja irgendwie schliesst, was ja wohl auch für die Theorie spricht.

Eine Welt der Wunder wünscht Dir

Horst   

#20 Draußen nur Ständchen

Liebe Susanne,

jetzt wird es Ernst. Der Frühling fängt an. Mitten in die Kontaktsperre rein. Jetzt wird sich zeigen, wer wirklich gut im zuhause bleiben ist. Bei Regen und Kälte kann ja jeder. Aber jetzt… Ich bin heute mal rausgegangen, um zu gucken, wer es so alles nicht gepackt hat. Es waren einige, aber die im Großen und Ganzen erstaunlich diszipliniert. Auch in den Kreuzberger Parks. Alle halten den Mindestabstand ein. Oder versuchen es zumindest aufrichtig. Nur wenn die großen Polizeiwannen zur Kontrolle durch die Grünanlage rollen, muss man manchmal kurz ein bisschen zusammenrücken, damit die durchkommen. Doch ich will gar nicht meckern. Über nichts und niemanden. Ich bin im Gegenteil gerade einigermaßen stolz auf die Stadt. Oder auf das, was ich von ihr sehe. Wie entspannt, freundlich, rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst alle miteinander umgehen. Nicht, daß ich es nicht auch genau so erwartet hätte. Aber ich gehöre ja zu den Menschen, die immer eher überrascht sind, wenn sie tatsächlich mal recht gehabt haben. Ich suche dann immer nach dem Fehler. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, daß in einer Stadt, in der es sonst 90 % der Menschen eilig haben, fast jeder Zeit hat.
Eines meiner Lieblingscafés wirbt heute mit „Draußen nur Ständchen“. Ich weiß nicht genau, ob sie damit verquast ausdrücken wollen, daß man nichts, was man dort gekauft hat, vor dem Lokal im Sitzen verzehren soll. Oder ob sie die Menschen dazu animieren möchten, auf der Strasse im Stehen zu singen. Mit Mindestabstand. Das fände ich hübsch, habe es mich aber erstmal nicht getraut.

Am Dümmer-See im Landkreis Diepholz gibt es eine Strandbar, die früher immer Themenabende veranstaltet hat. Also Thema war jeweils Malediven, Karibik, Seychellen und so. Man braucht viel Phantasie, um sich im Landkreis Diepholz an einem kühlen Regenabend im April wie auf den Malediven zu fühlen. War aber für uns kein Problem. Phantasie konnten wir. Wir hatten ja sonst nichts.

Manchmal gab es im Landkreis auch Wettbewerbe, wo man sich Slogans für Diepholz ausdenken sollte. Ich habe da immer mitgemacht und nie gewonnen. Als der Landkreis beispielsweise junge Unternehmen anlocken wollte, habe ich für die Kampagne eingereicht:„Wer sich aus dem Nichts etwas aufbauen will, braucht erstmal ein ordentliches Nichts. Wir haben jede Menge davon.“An den damaligen Gewinnerspruch erinnere ich mich nicht mehr. Aber daran, daß sich kein Unternehmen daraufhin angesiedelt hat. Weshalb ich bis heute der Meinung bin, man hätte meine Sätze nehmen sollen. Mit denen hätten wir zwar auch niemanden angelockt, aber alle hätten vermutet, daß es am Slogan lag. Das wäre weniger demütigend gewesen. Doch das wollte ich ja gar nicht erzählen. Ich wollte vom einzigen Werbespruch von mir berichten, der jemals genommen wurde. Nämlich für den Themenabend Mallorca in der Strandbar. Für den habe ich getextet: „Draußen nur Eimer“. Ich finde, wenn ich heute eine derart dunkle Episode aus meinem Schaffen, so frei heraus erzählen kann, ist das ein gutes Zeichen. Wofür auch immer.

Wie sagen wir bei den Frühschoppenliedern stets so schön: „Wer nicht mitsingen will, muss hören“.

Mögest Du immer einen Zusammenhang finden

Horst