#62 In einer Welt, in der es nur noch Montage gibt

Liebe Susanne,

als ich gestern Abend durch die Bergmannstrasse ging, durfte ich feststellen, daß die jetzt wieder fast normal aussieht. Also relativ gesehen. 

Eben von den Leuten, die in und vor den Lokalen sitzen her.

Oder sagen wir normal für einen Montagabend. Einen leicht verregneten Montagabend. 

Also nochmal von vorn: Die Bergmannstrasse sieht am Samstagabend immerhin schon wieder fast wie an einem durchschnittlichen Montagabend bei mittelschlechtem Wetter aus. 

Was allgemein als Schritt zurück zur Normalität angesehen wird. Schön.

Nachdem jetzt mehrere Wochen lang alles stets gefühlt wie Sonntagnachmittag ausgesehen hat, kommt nun vielleicht ein längeres Montagabendgefühl. Jeden Tag. 

Wie mag es sein, in einer Welt zu leben, in der es nur noch Montage gibt? 

Was vor einigen Monaten noch ohne weiteres als reguläre Dystopie durchgegangen wäre, empfinden wir heute als stufenweise Rückkehr zur Normalität. Wer vom Sonntag kommt, für den ist Montag schon ein Schritt weiter. Wann werden wir auch die restlichen Wochentage zurückbekommen? Also vom Gefühl her.

Eine der unterschätzten Corona-Folgen war bei mir ja, daß ich die letzten Wochen viel zu viel Kaffee getrunken habe. Da ich so die ganzen Wirte in meiner Umgebung unterstützen wollte. Indem ich möglichst häufig ihr Coffee-to-go Angebot genutzt habe.

Einem meiner Lieblingswirte ist das auch aufgefallen, weshalb er vor ein paar Tagen sehr besorgt zu mir sagte:

„Du trinkst Zuviel Kaffee. Das ist nicht gut für Dich. Achte mehr auf Deine Gesundheit. Trink auch mal Bier oder Wein.“

Nur Wirte raten Dir, was Dir Wirte raten. Deswegen sind sie systemrelevant. 

Trotzdem bin ich froh, daß sie wieder mehr anbieten, als Kaffee und Flaschenbier.

 Ich hatte schon angefangen in der Musterung der Bürgersteigplatten die Grammatik einer jahrtausendealten Zeichensprache zu erkennen. 

Bislang konnte ich aber nur zwei Sätze aus der Maserung der Bürgersteigplatten entschlüsseln. Beide sind direkt vor meiner Haustür. Der erste lautet: „Hast Du den Herd ausgemacht?“ 

Der zweite Satz ist noch kryptischer, denn wenn ich mich nicht täusche steht da: „Es gibt keine jahrtausendealte Zeichensprache in der Maserung der Bürgersteigplatten und hier steht auch kein Satz.“ 

Schon seltsam, aber solange ich über solche Dinge nachdenke, laufe ich zumindest nicht Gefahr in den Sog von abstrusen Verschwörungstheorien zu geraten.

 Denn mein wesentlicher Vorwurf an die Verschwörungstheorien ist ja nach wie vor, daß die allesamt viel zu schlampig ausgedacht sind. 

Wenn die Verschwörungstheoretiker doch mal einmal ein bisschen Geld in die Hand nehmen und vernünftige Autoren oder Autorinnen verpflichten würden. 

In manchen Bereichen wäre es so einfach, diese Welt ein bisschen besser zu machen. Aber vielleicht wollen die Verschwörungstheoretiker genau das ja auch gar nicht.

Einen baldigen Dienstag wünscht Dir

Horst

#66 Warn Se da schon selba dran?

Liebe Susanne,

Handwerkergeschichten sind vielleicht ein sehr passendes Thema für den Vatertag.

Nun denn. Meine Familie ist gewiss nicht sehr furchtsam. Aber mit einer Sache kann ich sie verlässlich in Panik versetzen. Wenn ich ankündige, irgendetwas in der Wohnung selbst reparieren zu wollen. Dann haben plötzlich alle irgendwelche Termine außerhalb. Die im Idealfall rund eine Woche dauern. Denn solange braucht es in der Regel, bis ich häufig und ausdauernd genug gescheitert bin und einen Fachmann bestellt habe.

 Über die Zeit zwischen meinem ersten Versuch und den Anruf beim Handwerksbetrieb möchte ich nicht reden. Ich rede ja auch nicht darüber, wie ich mal meinen Studienschwerpunkt gewechselt habe, weil ich in der ersten Semesterwoche zwei Seminarräume verwechselt habe. Erst nach vier Wochen habe ich gemerkt, daß ich im falschen Kurs sitze, was ich aber weder vor mir, noch vor anderen zugeben wollte, weshalb ich dann eben meinen Studienschwerpunkt gewechselt habe. Solche Geschichten interessieren keinen und deshalb erzähle ich sie auch nicht.

Mittlerweile reicht es meistens, der Familie nur damit zu drohen, ich würde etwas selbst reparieren. Dann bestellen sie meistens hektisch jemanden, schaffen es aber doch, daß ich den später empfangen muss. 

Meine Tochter hat mir hierzu vor zwei Weihnachten ein T-Shirt geschenkt, auf welchem steht: „Alles muss man selber machen…  lassen.“

Dennoch habe ich im Laufe der Jahre viel über den Umgang mit Handwerkern gelernt. Die drei wichtigsten Regeln sind meines Erachtens:

1. Tue nie so, als ob Du Ahnung hättest. Du hast nämlich keine Ahnung. Du hast sogar so wenig Ahnung, daß Du nichtmal weißt, wie wenig keine Ahnung du hast. Solltest Du das nicht von selbst einsehen, wird der Handwerker es Dir erklären. Fordere ihn niemals heraus. Du verlierst in 11 von 10 Fällen.

2. Lobe nie vor ihm andere Handwerker. Er ist Dein Handwerker. Du sollst keine anderen Handwerker neben ihm haben. Zumindest keine besseren. Auch keine gleich guten. Das es überhaupt andere Handwerker gibt, ist schon schlimm genug.

3. Die aller-, allerwichtigste Regel: Wenn er fragt: „War’n Sie da schon selba dran?“, ist deine Antwort immer: „nein“. Und nur nein. Selbst wenn es noch so offensichtlich ist, daß Du lügst. Bleibe Deiner Lüge treu. Denn wenn Du einmal zugibst, irgendwo schon dran gewesen zu sein, bist Du für immer schuld. An jedem weiteren Problem. Alles wird damit angefangen haben, daß Du da schon dran warst.

In der Wohnung auf dem Wedding hat die Hausverwaltung mal jemanden geschickt, um den Wasserboiler im Bad zu reparieren. Er hat dann den Heizkörper in der Küche repariert. 

Mit der wortwörtlichen Begründung: Er hätte nicht die richtigen Teile für den Wasserboiler gehabt. Also habe er dann eben den Heizkörper repariert. Den Heizkörper, mit dem es überhaupt kein Problem gab.

 Ich habe das reklamiert und hätte damit auch fast beim Handwerksbetrieb Erfolg gehabt. Bis ich in einem Nebensatz zugegeben habe, selbstständig die Wasserzufuhr zum defekten Boiler abgedreht zu haben. Ab dem Moment hatte ich keine Chance mehr. Ich war schliesslich sogar Schuld daran, daß der Handwerker nicht die richtigen Teile für den Wasserboiler dabei hatte. 

Und das erstaunlichste: Ich habe meine Schuld eingesehen. Da ich endlich begriffen hatte, daß ich keine Ahnung hatte, was man alleine daran erkannte, daß ich den früheren Klempner lobte, obwohl der doch mit der ursprünglichen Installation des Boilers, fünf Jahre vorher, das ganze Elend in Gang getreten hatte.

Dennoch war es eine wertvolle Erfahrung. Das sind eben Dinge, die lernste auf keiner Schule.

Gut Schraube wünscht Dir

Horst

#68 In der Sickergrube der öffentlichen Debatte

Liebe Susanne,

tatsächlich hatte auch ich heute einen windschiefen Tag. Dies merke ich daran, wenn ich plötzlich im Netz tagespolitische Debattenbeiträge lese. Alle Psychologen sind sich ja einig, daß das das Gemüt nicht sonniger macht.

Dennoch mache ich das manchmal, denn wenn ich nur Dinge täte, die mir gut tun, hätte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber den Menschen, die nicht nur Dinge tun können, die ihnen gut tun. 

Wenn die das allerdings genau so machen würden, wüsste man wenigstens mal, warum eigentlich kaum jemand die Dinge tut, die ihm gut tun.

Doch ich schweife ab. Ich habe also in einem konservativen Leitmedium einen politischen Kommentar gelesen. Trotz besseren Wissens. Es ging um die die Frage, ob der Staat seine Konjunkturankurbelungsgelder wirklich einsetzen sollte, um Menschen, die sich einen neuen S-Klasse-Mercedes kaufen, dabei finanziell unter die Arme zu greifen.

Der Autor meinte, kurz zusammengefasst, ja, das klinge erstmal befremdlich. Aber es sei trotzdem richtig, denn wenn der Mercedes-S-Klasse-Fahrer sich einen neuen Mercedes-S-Klasse kaufe, helfe das in erster Linie nicht ihm (er hatte ja wahrscheinlich auch vorher schon ein gutes Auto), sondern uns allen. Nicht zuletzt auch aufgrund des Sickereffektes.

Abgesehen davon, daß ich nicht weiß, wielange wieviel wovon versickern muss, damit von seinem Mercedes S-Klasse irgendwann bei mir womöglich ein VW Polo oder auch (was mir lieber wäre) ein altes klappriges Damenrad ankommt, ist der „Sickereffekt“ meines Erachtens wohl das halbseidenste aller politischen Dampfplaudererargumente. Also quasi der Friedrich Merz der Debattenbeiträge.

Letztlich vertraut der Sickereffekt immer darauf, daß man Millionären eine neue Million gibt, zum Beispiel durch Steuererleichterungen, damit die dann ihre alte Million, die sie ja denn nicht mehr brauchen, an weniger Wohlhabende weitergeben. Eigentlich eine total durchdachte und logische Überlegung. Warum es trotzdem nie funktioniert, weiß keiner. Wahrscheinlich weil die Flüchtlinge soviel kosten.

Im selben Medium gab es noch einen weiteren Kommentar, der darauf hinwies, daß wir der harten Wahrheit ins Gesicht sehen müssen. Denn am Ende werden wir nicht allen helfen können. 

Das denke ich auch. Zum Beispiel diesen beiden Kommentatoren werde ich sicher nicht mehr helfen können.

Aber das war ja nur ein vertaner Tag. Morgen werde ich wieder ganz, ganz viel nicht lesen, sondern ein Buch. Da freue ich mich schon drauf.

Fröhliche Grüße

Horst

#70 Die Familienplanung der Anderen

Liebe Susanne,

am Wochenende habe ich zufällig einen ehemaligen Fast-Mitschüler getroffen. 

Soll heissen, wir waren zwar nicht im selben Jahrgang, aber haben doch beide an der Graf-Friedrich-Schule in Diepholz unser Abitur gemacht. Also jeder sein eigenes natürlich.

In jedem Falle erzählte er mir von einem gemeinsamen Bekannten, der mittlerweile vier Kinder von vier verschiedenen Frauen hat. Alle unehelich, denn verheiratet war er die ganzen Jahre mit einer anderen Frau, die wiederum drei Kinder von drei verschiedenen Männern hat. Keines jedoch von ihm. Wohlgemerkt: Alle Kinder sind während ihrer gemeinsamen Ehe geboren.

Wann immer ich solche Geschichten höre, denke ich denselben Gedanken. Gut, so eine Geschichte hatte ich vorher noch nie gehört. Aber wann immer ich ähnliche Geschichten höre, denke ich wirklich stets denselben Gedanken.

Ich denke: Alle anderen erleben mehr als ich. Bei denen ist einfach mehr los in ihrem Leben. Irgendwie.

Ich habe kein einziges uneheliches Kind, Also außer meinem eigenen. Aber das ist ja nur unehelich, weil wir nicht verheiratet sind. Das gilt nicht. Ich habe kein normal uneheliches Kind. Außerhalb der Beziehung. Und da bin ich mir zu allem Überfluss auch noch ganz, ganz sicher. Das macht es nicht besser.

Dabei wäre ich garantiert ein sehr guter unehelicher Vater. Ich würde alles richtig machen. Wäre verständnisvoll, behutsam mit dem Kind und aufrichtig interessiert die Mutter kennenzulernen. Immerhin hätte ich die ja noch nie in meinem Leben gesehen. Aber wenn unser Kind uns einander vorstellen wollte, würde ich mich dem nicht verweigern.

Regentage haben ihre ganz eigenen Gedanken sagt man. Der heutige hat das bei mir aber mal so richtig bestätigt.

Es winkt und grüßt Dich

Horst

#72 Die Maske steht Dir wirklich gut

Liebe Susanne,

eine bislang eher wenig beachtete Corona-Folge sind ja tatsächlich die zwiespältigen Komplimente, die diese Zeit so mit sich bringt.

„Die Maske steht Dir wirklich gut,“ habe ich mittlerweile weit mehr als einmal gehört. 

Aber auch schon die Varianten:

 „Durch die Maske bekommt Dein Gesicht etwas irgendwie besonderes.“ 

„Mit Maske merkt man mal, dass Deine Augen ganz schön sind.“ 

und „Du hast echt ein Maskengesicht.“

Durfte ich alles schon hören.

Leider war jeder dieser Sätze glaubhaft gut gemeint und damit natürlich noch zusätzlich niederschmetternd.

Zudem habe ich große Schwierigkeiten, andere unter ihrer Maske zu erkennen. Seit Wochen schon grüße ich praktisch täglich einen Mann in unserem Viertel, von dem ich keine Ahnung habe, wer er sein könnte.

 Er trägt immer seine Maske. So ein Spidermann-Muster. Genau genommen grüße ich nur die Maske. Wahrscheinlich gibt es mehrere Spidermänner in unserer Ecke, die ich alle für denselben Menschen halte und grüße. Vermutlich hält man deshalb Spiderman für einen Superhelden. Weil er ständig praktisch überall ist.

Grundsätzlich wäre jetzt natürlich mal die Zeit auch selbst Superheld zu sein. Also zumindest von der Maske her. Aber welcher Superheld möchte ich eigentlich sein? Karl Liebknecht? Frida Kahlo? Professor Drosten? Franz Kafka? Saul Goodman? 

Irgendwie fällt mir kein richtiger Superheld ein, in dessen Rolle ich mich mir vorstellen könnte. Aber vielleicht zumindest eine Superheldenkraft?

Ich glaube, wenn ich von allen Superhelden und Superheldinnen der Menschheits-, Kultur-, und Popkulturgeschichte mir eine Superheldenfähigkeit aussuchen dürfte, würde ich wahrscheinlich die von Daniel Düsentrieb nehmen. 

Eben weil ich so schlecht im Dinge bauen bin. Ich kann nur über meine Erfindungen quatschen. Von all dem, was ich mir so ausdenke groß daherreden. Das kann ich.

Aber Erfindungen machen, im Sinne von bauen findet bei mir nicht statt.

Insofern bin ich wohl ein bisschen wie Berlin. Ist Berlin eine Superheldenfähigkeit? Oder überhaupt eine Fähigkeit? Und wenn ja, gibt es Berlin als Maske?

Fragen über Fragen. Welche Superheldinnenfähigkeit würdest Du Dir wünschen?

Es winkt und grüßt

Horst

#74 Woanders

Liebe Susanne,

die Kleider sind aber wirklich sehr schön.

Chöre sind eben nicht nur Infektions-Hotspots, sie sind auch Fettnäpfchen-Tiefebenen. 

Der Chor, in dem ich in meiner Jugend gesungen habe, war auch recht ambitioniert und litt unter dem ungewöhnlichen Problem eines zu geringen Durchschnittsalters. Konkrete Schwierigkeit war, daß die vielen Schülerinnen und Schüler in diesem Chor, nach ihrem Abschluss meist unverzüglich den Landkreis Diepholz verlassen haben. Aus guten Gründen. Da man in Diepholz nicht vergleichende Literaturwissenschaften studieren kann zum Beispiel. 

Eigentlich kann man in Diepholz gar nichts studieren. Doch das war nichtmal die entscheidende Fluchtursache. Vor allem kann man im Landkreis Diepholz nicht aus Diepholz wegziehen. Und das war für die meisten Schulabgänger zu jener Zeit der Fixpunkt in ihrer Lebensplanung. 

„Woanders.“ So lautete tatsächlich meine Antwort auf die Frage in der Abiturzeitung, wo ich mich in 20 Jahren sähe.

Für den Chor bedeutete dies in jedem Jahr empfindliche Verluste, mühsame Neuproben von Repertoire-Stücken und ständige Umbesetzungen der Soloparts. 

Daher freute sich der Chorleiter vor allem über ältere Neumitglieder. Also älter als Schulkinder. Dies führte dazu, daß er einmal zwei neue Frauen, die vielleicht Mitte dreissig waren, mit den Worten begrüßte:

„Der Chor braucht vor allem solche Frauen wie Euch, die ihr Leben, wie ich sehe, schon im Großen und Ganzen hinter sich gebracht haben.“

Bis heute weiß ich nicht, was er eigentlich sagen wollte. Die beiden Frauen jedoch sind kein zweites Mal erschienen.

Da fällt mir ein, daß vorgestern schon zum dritten Mal jemand zu mir sagte: „Du bist ja nun doch auch Risikogruppe, oder?“

Ich bin 53, rauche nicht und habe auch keine Vorerkrankungen, von denen die jeweiligen Gegenüber wissen können. 

Warum halten Sie mich für eine Risikogruppe? Nicht daß es mich stören würde, Risikogruppe zu sein, aber nachdenklich macht mich das schon.

Das sind in jedem Fall so Momente, wo ich dann gerne auf die Frage
„Wo siehst Du Dich in 20 Sekunden?“
antworten würde:

„Woanders.“

Von hier grüßt Dich 

Horst

#76 Unterwegs in der sterilen Gesellschaft

Liebe Susanne,

Ja es stimmt, die „neue Normalität“ nimmt langsam Formen an.

Ich zum Beispiel schreibe diesen Brief aus dem ICE nach München. Es ist lange her, daß ich was in der Bahn geschrieben habe. Es war der erste Beitrag für den Krisenkalender am 17. März.

Damals schrieb ich:
„Am Wochenende in Leipzig bin ich noch auf einen Zug gehastet. Ich hab ihn gerade so geschafft. Also eigentlich, denn als ich am Bahnhof ankam, musste ich feststellen, daß er ersatzlos gestrichen war. Habe deshalb einen Bahnmitarbeiter gefragt: 

„Oje, ist das wegen Corona?“

Er hat mich sehr freundlich und traurig angesehen, um dann emotionslos zu antworten.

„Nein, nein, das ist einfach ganz normal wegen Bahn.“

Seitdem ist viel passiert. Nun, da ich zurück im ICE bin, muss ich feststellen:

 Er fährt. Er ist pünktlich. Er ist extrem sauber und fast leer. 

Vielleicht ist ja doch was dran an der These, daß sich alle Probleme der Bahn von allein lösen würden, wenn man nur auf die Fahrgäste verzichten täte.

Dies ist nun allerdings auch der erste Text, den ich mit Mund- und Nasenschutz schreibe. Ich habe fünf verschiedene Masken mitgenommen, um nach und nach herauszufinden, mit welcher man am Besten schreiben kann. Nach nur einer Stunde Fahrt glaube ich schon ein recht belastbares Ergebnis ermittelt zu haben:

Mit keiner.

Verändert es die Geschichten, wenn man sie mit Atemschutz schreibt? Werden sie hygienischer? Klinischer? Kurzatmiger? Schlechtgelaunter? Müder? Neurotischer? Alles?

Die sterile Gesellschaft. Das haben wir nun bekommen. Was wird das mit den Menschen machen?

Als Bauernhofkind, dem zur Sauberkeit ein eher pragmatisches Verhältnis anerzogen wurde, waren mir die Putz- und Ordnungsliebhaber immer eher suspekt. 

Offen gestanden habe ich ihren Reinlichkeitswahn stets mehr für eine Marotte, wenn nicht gar eine Verhaltensstörung gehalten. Nun jedoch triumphieren sie. 

Täglich beobachte ich, wie sie aufblühen und die sterile Gesellschaft geniessen oder verlangen. Die Aggressivität mit der dies zeitweise geschieht, verunsichert mich.

Mir ist klar, daß vieles von dem, was ich in der Schule gelernt habe, nicht mehr aktuell ist. Oft erfahre ich das erst mit jahrelanger Verzögerung und denke solange weiter den Unsinn aus meiner Kindheit.

 Gilt dies auch für die Annahme, daß eine keimfreie Gesellschaft immer weniger widerstandsfähig gegen Alltagskeime wird? Habe ich, wie so oft, wieder einfach nur was verpasst?

Ich schreibe dies tatsächlich alles nur, weil gerade wirklich ein Fahrgast durch den Zug spaziert und alle anderen Reisenden unterrichtet, wie sie ihre Maske richtig zu tragen haben. 

Einerseits bin ich ein wenig irritierend stolz, daß er bei mir nichts zu beanstanden hatte. Andererseits macht mich die Rigorosität, mit der er andere anherrscht, ratlos.

 Gott sei Dank sind so wenige unterwegs. Da war er nicht sehr lange in unserem Waggon. Dennoch reichte es für zwei massive Wortgefechte. Ich sag mal: Im mittleren Westen der USA wäre jetzt mindestens einer tot.

Auf dem Rückweg beließ er es bei einem fatalistischen „Immernoch verkehrt!“ gegen die, die es immernoch verkehrt machten. Ich bekam ein freundliches Lächeln mit den Augen und erwischte mich dabei, wie ich mich darüber freute. 

Mehr noch, wie ich dachte: „Wieso können es die Anderen nicht auch einfach richtig machen. Die sehen doch, daß er kommt. So schwer ist es ja nun wirklich nicht.“

Womit ich ja nun andrerseits auch wieder recht habe.

Nun gut. Zur Frage, wie Texte mit Maske werden, kann ich fürs Erste schonmal sagen:

Länger

…und mürrischer wohl auch. Wenn ich demnächst wieder häufiger im Zug sitze, werde ich mir da vermutlich was überlegen müssen. Doch jetzt lasse ich das erstmal so stehen. Als Zeitzeugnis quasi.

Fahrende Grüße sendet Dir

Horst

#78 Was mir nicht fehlt, fehlt mir

Liebe Susanne,

zum Frisör gehen zu können, ist eine der Sachen, um die ich Dich wirklich beneide. Das würde ich auch gerne mal wieder. Doch ich fürchte, die würden sich verhohnepipelt vorkommen, wenn ich dort ankäme und „Bitte einfach nur die Spitzen ein bisschen“ sage.

Oder gibt es bei Frisören womöglich schon einen Service speziell für Glatzköpfe? Fischrestaurants haben ja auch immer ein ausgewähltes Menü für Menschen, die keinen Fisch mögen. Genauso wie Steakhäuser Gerichte für Vegetarier anbieten und Verlage Buchreihen für Nichtleser auflegen.

Tatsächlich ist dies für mich aber auch ein weiteres erstaunliches Corona-Paradox. Wie ich Menschen um Dinge, die ihnen fehlen, beneide. Weil es mir eben nicht fehlt. Und ich denke, mir fehlt etwas, wenn es mir nicht fehlt.

Der Freund der Tochter freut sich total, daß die Fitnessstudios wieder öffnen. Ich denke: „Es wäre schön, wenn ich mich auch darüber freuen könnte. Schade, daß es mir egal ist. Mein Leben ist ärmer, weil mir das Fitnessstudio nicht fehlt.“

Wenn ich mich für die Formel Eins interessieren würde, könnte ich darunter leiden, daß die im Moment nicht stattfindet. Womöglich würde mir dieses Leid etwas geben. Ich könnte traurig sein, daß Vettel Ferrari verlässt. Vielleicht hätte diese Trauer etwas anmutiges, wenn nicht edles. 

So aber denke ich nur: „Warum weiß ich überhaupt so einen Scheiß? Ist mein Gedächtnis wirklich immernoch so propper unterwegs, daß es sich den Luxus leisten kann, für so einen Quark Speicherplatz zu verplempern? Für den Unsinn hätte ich mir auch etwas merken können, was ich jetzt vergessen habe. Glaube ich zumindest. Ich erinnere mich ja nichtmal daran, was ich vergessen habe. Im schlimmsten Falle stelle ich nach ewigem Nachdenken, wenn es mir tatsächlich wieder einfällt, fest, daß ich mich dafür auch nicht interessiere.“

Aber gut. Ich bemerke also mit einigem Unbehagen, daß es mich traurig macht, wenn mir jetzt wieder Dinge erlaubt werden, die ich überhaupt nicht vermisst habe.

Vielleicht bin ich aber auch nur irritiert, weil ich die Denkfehler nicht verstehe.

Wie ein normales Leben in Berlin ab September funktionieren soll, wenn gleichzeitig zum Beispiel U-Bahnen und Busse nicht überfüllt sein dürfen, ist mir völlig schleierhaft. Schon jetzt reicht ein plötzlicher Ersatzverkehr, um alle Abstandsregeln wie nix hinweg zu wischen. 

Warum dann für Theater und Kinos solch absurde Abstandsgebote durchgezogen werden, erschließt sich mir rein logisch nicht wirklich. Der einzige Grund dürfte sein, daß man es dort durchsetzen kann und anderswo eben nicht.

Womöglich denkt aber auch irgendwo irgendwer mit Einfluss gerade schon, daß ihm etwas fehlt, wenn es ihm nicht fehlt, ins Theater gehen zu können. Dann könnte es ja womöglich doch nochmal alles gutgehen und es dürfen etwas intelligentere Öffnungskonzepte für Auftrittsorte entwickelt werden. Würde echt helfen. Nicht nur mir.

Hoffnungsfrohe Grüße

Horst

#80 In 80 Tagen um die Welt zuhause

Liebe Susanne,

Corona ist noch nicht vorbei. Wer wüsste das besser, als wir? 

Noch immer ist alles, was wir machen dürfen, nur Behelf. 

Samstagabend beispielsweise gehe ich auf die Schöne Party. Allerdings werde ich der einzige Gast dort sein. Da die Macher der Schönen Party zumindest nicht gar nichts machen wollen, werde ich also im LiveStream ab 20.00 Uhr 45 Minuten lang Geschichten erzählen. Natürlich ohne Publikum. So gern ich mich und meine Geschichten auch mag. Was für eine Party ist das denn?

Allerdings habe ich jetzt natürlich Angst, daß sowas passiert, wie bei dem Landwehrkanal-Rave am Sonntag. Also daß spontan tausende Raver am Samstag mit und ohne Schlauchboote in den Frannz-Club kommen, weil sie zu meinen Texten mal wieder richtig abtanzen wollen. Ich hoffe, es geht alles gut.

Das dachte man ja ohnehin ständig während der letzten 80 Tage. Hoffentlich geht alles gut. Das werden wir natürlich auch in den nächsten 80 Tagen denken. Und eigentlich denke ich das ja schon mein ganzes Leben lang. Im Prinzip sogar ununterbrochen.

Daher möchte ich diesen letzten (viel zu langen) Brief des Krisenkalenders nutzen, um eine kleine höchst unvollständige und extrem subjektive Bilanz von Corona zu ziehen. 

Ich fand und finde diese Seuche und ihre Folgen alles in allem wirklich sehr, sehr, sehr doof. 

Damit wäre diese Bilanz eigentlich schon abgeschlossen, allerdings bin ich ja stets bemüht auch das Positive zu sehen, weshalb ich hier dann doch noch etwas differenzieren möchte.

Gut ist, daß die Massnahmen vermutlich bislang sehr, sehr viele Leben gerettet haben und hoffentlich auch weiter retten werden.

Schlecht ist, daß trotz allem auch viele Menschen an dieser Krankheit gestorben sind und auch noch sterben werden.

Gut ist, daß der Schutz von Leben tatsächlich einmal vor den Schutz der Wirtschaft gestellt wurde.

Schlecht ist, daß am Ende nicht die Wirtschaft den Preis dafür zahlen wird.

Gut ist, daß für einen ganz, ganz kurzen Moment sehr viele Menschen endlich mal die Anerkennung für ihre Arbeit bekommen haben, die ihnen mehr als zusteht.

Schlecht ist, daß dies eben nur ein sehr kurzer Moment war und sie sich auf mittlere Sicht für diese Anerkennung nichts werden kaufen können. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Gut ist, daß ich wohl für den Rest des Jahres keine Steuern mehr zahlen muss.

Schlecht ist, daß dies wahrscheinlich vielen kleinen Selbstständigen so gehen wird.

Gut ist, daß der ganz überwiegende Teil der Menschen sich in Krisensituationen verständig, sozial, uneigennützig und opferbereit verhält.

Schlecht ist, daß keine der Chancen, die diese Krise geboten hätte, genutzt werden wird.

Gut ist, daß zur Corona-Hochzeit viele der größten Idioten tatsächlich mal die Klappe gehalten haben.

Schlecht ist, daß die allergrößten Idioten nun allerdings lauter denn je sind.

Gut ist, daß ich nicht in einem Land lebe, welches von bösartigen, durch und durch skrupellosen Narzissten regiert wird.

Schlecht ist, daß mir das womöglich nichts nützt, wenn die dumpfe Seite der Macht die ganze Welt in Brand steckt.

Gut ist, daß ich während der schlimmsten Corona-Tage diesen Krisenkalender hatte, der mir sehr geholfen hat, nicht wahnsinnig zu werden oder mich ganz der tiefen Traurigkeit hinzugeben.

Schlecht ist …daran nichts.

Nichts muntert mehr auf, macht mehr Mut, als der Versuch etwas Lustiges zu schreiben. 

Allen Leserinnen und Lesern möchte ich daher aufrichtig danken, daß sie mir eine Motivation dafür gegeben haben.

Ich konnte nie Tagebuch schreiben. Da ich mich selbst als Leser nicht ernst nehme. Für mich würde ich mir keine Mühe geben.

Daher danke ich Ihnen, für die Mühe, die ich mir gemacht habe. Mir hat das sehr gut getan.

Der Krisenkalender wird mir fehlen. Aber, um den Gedanken, den ich in meinem vorletzten Brief vorbereitend schon umrissen habe, hier nun wieder aufzunehmen: 

Irgendwie mag ich es, wenn mir Dinge fehlen. Wenn mir nichts fehlen würde, würde ich das Vermissen vermissen. Und der Krisenkalender ist eine richtig tolle Sache zum vermissen. Da ich nur gute Erinnerungen an ihn habe.

Dazu, liebe Susanne, hast Du sehr wesentlich beigetragen.

Und dafür möchte ich auch Dir von Herzen danken.

Es ging hier: „In 80 Tagen um die Welt zuhause“.

Ich habe mich sehr heimisch gefühlt.

Horst