#42 Ich kenne Frauen in allen Größen

Liebe Susanne,

dieser neue Text auf „the lion sleeps tonight“ fällt wirklich in die Kategorie: Wäre ich auch gern drauf gekommen. „The liar tweets tonight“ summt man doch gerne.

Apropos, im Park bin ich heute einer telefonierenden Frau begegnet, die plötzlich sehr authentisch und verzweifelt geschrien hat: „Echt mal ehrlich! Warum können denn nicht einfach alle das machen, was ich will?“

 Das hätte ich wirklich auch nicht besser formulieren können. Oder um mit Groucho Marx zu sprechen: „Ich bin nicht so größenwahnsinnig zu glauben, ich könnte alle Probleme dieser Welt lösen, wenn ich absolute Macht hätte. Aber ich könnte zumindest meine Probleme lösen.“

Dazu passt leidlich ein bemerkenswerter Dialog zwischen einem vielleicht vierjährigen Mädchen und ihrem Vater, den ich Mitte der Woche im Supermarkt aufgeschnappt habe. 

Das Kind fragte nämlich, warum ihre Eltern immer Kaisers zu dem Rewe-Markt sagen. Woraufhin der Papa antwortete, daß der Markt früher Kaisers geheißen hätte, dann aber wie alle Kaisers-Märkte von Rewe und Edeka gekauft wurde.

Die Tochter befand, daß Kaiser als Name sehr viel besser sei, als Rewe oder Edeka. Hätte man sie gefragt wäre eine derartige Namensverschlechterung nicht passiert. Also sinngemäß meinte sie dies. Das Mädchen hat es ein wenig einfacher ausgedrückt und mit Würge- und Kotzgeräuschen untermalt.

 Der wirklich erstaunliche und wörtliche Satz von ihr kam jedoch einige Sekunden später, als sie unvermittelt beschloss und verkündete: „Wenn ich groß bin, kaufe ich Jonas, dann kann ich ihn Findus nennen.“

Oder um es mit meinem alten Englischlehrer Herrn Noltze zu sagen, der, wenn er wieder mal die Namen seiner Schüler verwechselt hatte, gerne ausrief:

„Ach, heißt doch alle, wie ihr wollt!“

Namentliche Grüße

Horst

P.S.: Das mit dem Kleid hat sich erledigt. Die Interessentin hat das Foto gesehen und abgewunken. Aber über die Größe „S“ hat sie sich sehr gefreut. Ich weiß halt, wie‘s läuft. 
Doch auch grundsätzlich kann ich nach kurzem Nachdenken ganz aufrichtig sagen: Ich glaube, ich kenne wirklich Frauen in allen Größen.

#44 Wer ist schuld?

Liebe Susanne,

bei der Geschichte mit der Pistazien-Mortadella musste ich nun wieder gleich an meinen Onkel Herbert denken, der es liebte im Lokal folgende Bestellung aufzugeben:

„Ich hätte gerne einmal die Spaghetti Napoli. Aber mit Fleisch statt Nudeln und lassen Sie die Sauce weg.“

Bist zum Schluss hat er nicht bemerkt, daß es nie ein Kellner lustig fand. Auch sonst keine Person am Tisch. Nur er hat sich jedesmal ausgeschüttet vor Lachen. Solange, bis sich doch irgendwann alle mit ihm gefreut haben. Das war schon irgendwie auch toll. Er konnte wirklich einfach solange lachen, bis alle mitgelacht haben. Schade nur, daß er darauf bestanden hat, vorher auch noch einen Witz zu machen. Ohne seine Witze wäre mir das Lachen leichter gefallen.

Ein beliebtes Opfer seiner Witze waren, neben unbeteiligten Passanten, auch immer die Herren Professoren. Er kannte stets einen Herrn Professor Richtigschlau, der dann beispielsweise zu einer hundert Kilometer entfernten Tankstelle gefahren ist, weil dort das Benzin 2 Pfennig billiger war.

Dies wiederum fällt mir nun ein, da wir schon vor vier Wochen in der Familie diskutiert hatten, wem man wohl diesmal am Ende die Schuld für diese Krise geben würde. 

Ausländer, Asylanten oder Flüchtlinge wären ja wohl als Coronasündenböcke nur sehr schwer zu begründen. Selbst Juden oder Moslems kann man nicht richtig dafür verantwortlich machen. Und auch die Drogenmafia oder die Klimalobby bieten sich nicht wirklich an. 

Wir hatten deshalb schließlich im Scherz spekuliert, daß es nun womöglich die Wissenschaftler erwischen könnte. Was damals noch ein albernes Geplänkel war, scheint jedoch langsam gar nicht mehr so abwegig. Ich finde das beunruhigend. 

Natürlich könnte ich sagen: „Da sind sie auch selber schuld. Sie hätten ja auch so wie ich damals ihr Studium abbrechen können. Hat sie ja keiner gezwungen, einen Abschluss und Karriere zu machen.“ Doch ich bin nicht sicher, ob die, die es angeht, die Ironie verstehen.

Mein alter Linguistik-Professor hat mal gesagt: „An der Qualität ihrer Ironie, erkennt man die Idioten.“ Eine These, die durch die heutigen Scherze der AfDler häufig bestätigt wird.

Mein Onkel war übrigens im Grunde herzensgut. Nur ein bisschen Rassist und außerdem einigermaßen Akademiker- und Frauenfeindlich. Aber sonst ganz gewiss kein schlechter Mensch. Und er hatte Humor. Aber nicht zu knapp!

Außer, wenn er Witze erzählte. Aber irgendeine Schwäche hat ja jeder.

Wer kennt das nicht.

Bis morgen 

Horst

#46 Hauptsache nix mit Arbeit

Liebe Susanne,

Es soll jetzt wirklich keine Gewohnheit werden, hier die schlechten Witze meiner Kindheit zu zitieren. Doch wo ich schonmal von meinem Onkel angefangen habe und heute ja nun der erste Mai ist, muss ich doch erwähnen, daß der, immer wenn das Wetter am Tag der Arbeit so ein unsteter Wechsel von Sonne und Regen war, sich selbst begeisterte mit dem Ausruf:

 „Das ist ja gar nicht der erste Mai. Das ist ja der 31. April.“

Und als ich genau diesen Scherz gerade bei der offiziellen Wettervorhersage vom Sprecher im Radio hörte, da war das fast wie ein Heimkehren in die ländliche Kindheit. Aber mitten in Berlin. So weit ist es schon. Das jetzt sogar die schlechten Witze meiner Jugendjahre zu einem Stück Heimat und Geborgenheit für mich geworden sind.

Nun habe ich schon soviele erste Maie in Berlin erlebt. Doch erstmalig denke ich am Tag der Arbeit tatsächlich an Arbeit. Also Arbeit als etwas Positives. Das hätte ich nie erwartet. 

Als ich noch davon ausgegangen war, ich würde einmal so etwas wie einen Beruf ergreifen, war mein wichtigstes Kriterium für die Auswahl: „Hauptsache nix mit Arbeit!“.

 Eben irgendeine Beschäftigung, wo man für möglichst wenig Tätigkeit, sehr viel Geld bekommt.

Kurze Zeit später musste ich lernen. Man ergreift keinen Beruf. Das ist eine dieser Lügen, die sie Dir als Kind erzählen. Man wird von einem Beruf ergriffen. 

In meinem Falle war es ja dann einer, wo ich zunächst für erschütternd viel Tätigkeit deprimierend wenig Geld bekommen habe. Und dennoch davon überzeugt war (und immernoch bin), daß ich unfassbares Glück gehabt habe. 

Zum ersten Mal habe ich am Tag der Arbeit das Gefühl, ich würde mich gerne dafür bedanken. Wie ich mich eben für sowas bedanke. Mit einer Demonstration zum Beispiel. Wie genau das jetzt ablaufen könnte, weiß ich aber auch noch nicht. Zuviel Tätigkeit fände ich am Tag der Arbeit nun auch wieder unangemessen. Und soweit, daß ich mich dafür durchregnen lasse, geht der Wunsch mich zu bedanken ja nu natürlich auch wieder nicht.

Doch andere haben ganz andere Sorgen.

Ein Freund, der ein richtig großes Fest an diesem Wochenende absagen musste, tröstete sich gestern mit den Worten: „Naja, zum Glück hätten wir wenigstens Pech mit dem Wetter gehabt.“

Eine Nachbarin, die unter einem richtig heftigen Frühlingsschnupfen leidet, einer ständig laufenden Nase, meinte wörtlich: „Für mich persönlich ist dadurch diese Maskenpflicht in U-Bahn und Geschäften gerade die ekligste Erfahrung seit… das willste gar nicht wissen!“

Eine Bekannte meinte, in ihrem Haus gebe es mehrere Bewohner, die die Masken ablehnen, aber das Abstandsgebot durch den ununterbrochenen Verzehr von Knoblauch und rohen Zwiebeln durchsetzen wollen. Langsam dringt der Geruch vom Treppenhaus in die Wohnung.

Dagegen ist das seltsam Behagliche, welches ich bei schlechten Witzen aus meiner Kindheit verspüre, natürlich nichts worüber man sich Gedanken machen sollte.

Hoffe ich.

Einen schönen 31. April wünscht Dir 

Horst

#48 Der Verabschiedungssack

Liebe Susanne,

Ich habe heute große Teile des Tages damit verbracht, in der Stadt zu beobachten, wie die Menschen sich begrüßen und verabschieden. Dies ist ja mittlerweile sehr individuell und kreativ geworden, da man das nicht mehr per Handschlag, Umarmung oder Anstupsen machen kann.

Erstaunlich oft sehe ich diese asiatische Verbeugung mit aneinander gelegten Händen. Wie beim Judo oder der Teezeremonie. Tatsächlich muss ich leider auch jedesmal an Kung Für Panda denken und rechne immer damit, daß es dann ja wohl gleich in die Fresse gibt.

Nachdem die Zeit der Fuß- und Ellenbogenshakes anscheinend auch vorbei ist, habe ich heute auch viele gesehen, die sich zur Begrüßung voneinander wegdrehen und mit den Hintern zusammenstoßen. Das ist zumindest lustig. Für Zuschauer und Postupser gleichermaßen.

Zudem gibt es selbstverständlich auch expressionistisches Winken oder kleine Tänze. Hübsch. Allerdings konnte ich auch zweimal beobachten, wie sich Menschen zum hallo sagen mehrfach auf den Kopf gehauen haben. Also jeder auf den eigenen. Das war seltsam.

Andere haben statt Umarmung einmal die Maske auf und wieder abgesetzt. Doch das eigenartigste, was ich beobachten konnte, war, wie sich zwei gegenseitig ihre Handys gezeigt haben, auf deren Bildschirmen dann GIFs von schüttelnden Händen waren. 

Wo führt es hin, wenn das Schule macht? Zeigt man sich demnächst auch gegenseitig Küsse auf Handys? Und dann Bilder von Ohrfeigen, weil das Bild vom Kuss als übergriffig empfunden wurde? Welche anderen zwischenmenschlichen Begegnungen werden in Zukunft durchgeführt, indem man sie sich auf dem Handy zeigt? Macht das noch Spaß?

Doch noch schwieriger als das Begrüßen, scheint das Tschüß sagen. Es zeigt sich, daß ein Verabschieden ohne Berührung oft irgendwie herzlos wirkt. Häufig sehe ich Menschen, die ratlos, bemüht lächelnd voreinanderstehen und dann einfach weggehen. Beide offensichtlich mit einem schlechten Gefühl. Das ist nicht schön.

Daher plädiere ich für die Einführung von absolut virendichten Verabschiedungssäcken. Die man sich nur zum Umarmen schnell über den Kopf ziehen kann. Wenn man sowieso immer Maske und Desinfektionsspray dabeihaben muss, wäre so Begrüßungs- und Verabschiedungssack doch auch kein großes Zusatzgepäck. Mal so als Anregung. Was denkst Du?

Sei umarmt

Horst

#50 Endlich Fuffzich

Liebe Susanne,

Nun ist dies also tatsächlich schon der fünfzigste Brief, den wir uns schreiben. Also jeder 25.

 Das heißt, das geht jetzt schon über sieben Wochen so. Mir kommt es mal kürzer, mal sehr viel länger vor. Manchmal aber auch wie sieben Wochen.

 Wie bei so vielen Menschen ist auch mein Verhältnis zum Kalender mittlerweile eher so wie zum Alkohol. Ich brauche ihn nicht, aber ab und an hilft er mir schon. 

Um mich zu erinnern. Viele trinken um zu vergessen, ich trinke, um mich zu erinnern. 

An die Zeit, wo ich noch mehr und sorgloser getrunken habe. Ja teilweise war sogar meine einzige Sorge, daß ich zu viel trinken würde. Mir fehlen meine alten Sorgen manchmal sehr. Tatsächlich. Ich glaube, wenn man mich heute fragen würde, was ich aus meinen zwanziger Jahren am meisten vermisse, würde ich sagen: „Die Sorgen, die ich damals hatte.“

In Deinem ersten Brief schriebst Du, daß am nächsten Tag die Läden schliessen sollten. Deshalb haben viele noch schnell etwas auf Vorrat erworben. Du ein Fahrrad. Ein Hamsterrad, wie Du es damals so schön formuliertest. 

Ich erinnere mich noch gut an den Tag. Ein bisschen lag auch so eine Ferienstimmung über der Stadt. Heute sagt keiner mehr Ferien zu diesem Corona-Ding. 

Herr Scholz und Frau Gates haben gestern unabhängig voneinander geäußert, daß es wahrscheinlich noch zwei Jahre dauern werde, bis wieder eine Art Normalität Einzug halten könne. Ich weiß nicht, wo die beiden gedenken, diese zwei Jahre zu verbringen. Aber außer den zweien kenne ich niemanden, der diesen Zustand noch zwei Jahre durchhalten würde.

Ich wäre sehr froh, wenn man sich drauf einigen könnte, daß so ein weltfremder, jahrelanger Dauerausnahmezustand sicher keine vorstellbare Option ist. Zumindest nicht für normale Menschen. Doch mich fragt ja keiner. Was wahrscheinlich auch ganz gut ist. Schliesslich antworte ich sowieso meistens nur, wenn keiner fragt. Denn auf die ganzen Fragen hätte ich ja auch keine Antworten. Doch solange mich keiner fragt, fällt mir das Antworten leicht.

50 Tage Corona-Lockdown. Es gab schon auch ein paar gute Dinge in dieser Zeit. Deine Briefe zum Beispiel. Dafür möchte ich Dir tatsächlich an dieser Stelle einmal ganz offiziell und herzlich danken.

Dein Horst

P.S.: Gerade sagte jemand in Park: „Wenn mein heutiger Gemütszustand ein Obst wäre, wäre es ein Apfelgriebsch.“ Ich wusste genau, was er meinte.

#52 Wo spuken sie denn?

Liebe Susanne,

bald spielt die Bundesliga wieder. Hurra! 

Als Werder Bremen-Fan hatte ich ja eigentlich gehofft, man würde die Saison abbrechen, den Abstieg aussetzen und den Meister auslosen. So hätte dann ja auch Hertha mal eine realistische Titelchance gehabt. 

Vielleicht war dieses Handyvideo von Kalou tatsächlich ein letzter verzweifelter Versuch diesen unkonventionellen, aber eben doch einzig möglichen Weg zur Meisterschaft noch offen zu halten. Wenn wieder gespielt wird, gewinnen doch sowieso immer dieselben. Im Sinne der Spannung wäre es besser gewesen mal aufs Fussballspielen zu verzichten. Dann hätte ich den Sport auch wieder interessant gefunden.

Wobei ich kürzlich auch von einem anderen Werder-Fan mit den schönen Worten getröstet wurde. „Mal angenommen, es ist klar, daß Dein Verein absteigt. Und Du kannst aber entscheiden in welcher Saison. Dann ist diese verkackte Corona-Spielzeit doch quasi perfekt zum absteigen. Im Prinzip haben wir da wieder mal totales Glück.“ Ich habe beschlossen es von nun an auch so zu sehen.

Nun also Geisterspiele. Wenn es nach meiner Nichte ginge, wären umgekehrte Geisterspiele noch viel toller. Als sie im Alter von fünf Jahren zum erstenmal mit ihrer Mutter ins Stadion durfte, hat sie hinterher geurteilt: „Alles war total super. Außer dem Fussballspiel.“

Das fand sie zu lang, zu weilig, zu doof und alles in allem eigentlich auch überflüssig. Vielleicht sollte man das nach Corona mal machen. Ins Stadion gehen. Dort zwei Stunden lang nichts gucken. Dann Stadionwurst, zusammen singen und wieder nach Hause. Meiner Nichte würde es gefallen. Mir wahrscheinlich auch.

Falls sich jetzt bei diesen Geisterspielen alle Bundesliga-Profis gegenseitig anstecken, sollte man die Übertragungen deshalb aber auch nicht wieder sofort abbrechen. Wennschon dennschon. Stattdessen könnte man doch dann aus den Bundesliga-Quarantäne-WGs senden. So hätten die Vereine ihre Fernsehgelder und wir Unterhaltung. Und um Gefahren für die Filmteams zu minimieren könnten ja die Spieler sich größtenteils mit den Handys einfach selber filmen. 

Dazu sind sie locker in der Lage und wahrscheinlich wäre es sogar spannender als die normale Bundesliga-Saison. Also ich würde es gucken.

Allseits gutes Programm
wünscht Dir

Horst

#54 Der Herr Major

Liebe Susanne,

Anlässlich des Tages der Befreiung musste ich an das Demenz-Pflegeheim denken, in dem mein Vater seine letzten Monate verbrachte. Dort gab es nämlich einen Mann, der mich immer mit „der Herr Major“ ansprach. Das fand ich, offen gestanden, fast schmeichelhaft. Immerhin sah er in mir einen Offizier. Das war ja schon was. 

Allerdings hat er mir dann auch stets einen Lagebericht gegeben. Die Lage war desaströs. Für einen Großteil der Patienten in diesem Hospital schloss er einen weiteren Dienst an der Waffe aus. Im Gegenteil. „Vielen von ihnen werden wir leider nicht mehr helfen können.“ Diesen Satz wiederholte er wie einen Refrain und raunte mir dann zu. „Einige von denen wissen gar nicht, wo sie hier sind und haben sich längst in eine völlige Phantasiewelt geflüchtet.“ Er habe daher beschlossen, einfach ihr Spiel mitzuspielen und ihnen gegenüber den Krieg gar nicht mehr zu erwähnen. Aus Barmherzigkeit. 

Das wäre eigentlich ziemlich lustig gewesen, hätte ich nicht von einer der Pflegerinnen erfahren, daß dieser Mann ungefähr jede zweite Nacht durchschrie. „Sie werden eben wieder zu Kindern,“ meinte sie. „Sie schlafen einfach nicht mehr durch.“

Ein wirklicher Tag der Befreiung war der achte Mai wahrscheinlich nur für die nachfolgenden Generationen. Die, die diese Barbarei erlebt und sogar überlebt haben, blieben eben doch ihr Leben lang Gefangene dieses Krieges. Früher oder später zumindest. Täter wie Opfer. 

Klar fühlt es sich vor diesem Hintergrund unwirklich an, heute von den Corona-Einschränkungen genervt zu sein. Insofern hätte es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt für diesen Feiertag geben können.

Ich habe in diesem Demenz-Pflegeheim seinerzeit übrigens immer versucht, mich auf die Erinnerungsrealitäten der Patienten einzulassen. Auch wenn diese meist nicht leicht zu verstehen und praktisch durch die Bank furchtbar waren. Ich versuchte zu ergründen, was in den Alten vorging. Erfolglos. Als wenn sie das selbst gewusst hätten.

Umso mehr bewunderte ich eine Schwester, die genau das Gegenteil tat. Sie sagte den Patienten einfach, was in ihnen vorging. Und die glaubten ihr das. Sie wusste, was ihre Leute sich wünschten, obwohl die selbst keine Ahnung davon hatten. Sie ging auf die Alten zu und sagte ihnen: 

„Sie haben Hunger!“ „Sie haben Durst!“ „Sie sind müde!“ „Sie möchten einen Spaziergang machen!“ „Sie hören gerne diese Musik!“ 

Anfangs fand ich das schroff und übergriffig. Bis ich merkte, daß sie immer recht hatte. Sie war wie ein Amazon-Algorithmus. Nur ohne Amazon und ohne Algorithmus. Sie wusste einfach immer von allein, was die Leute sich wünschten und irrte sich nie. Alle mochten sie. Ich bewunderte sie sehr und hätte mir gewünscht, auch in den Genuss ihrer Fähigkeiten zu kommen. 

„Sie wollen ihr zweites Staatsexamen machen!“ Hätte sie mir das gesagt, hätte ich garantiert mein Studium vernünftig abgeschlossen. Da bin ich sicher. Und ich wäre damit sehr zufrieden gewesen. Davon bin ich auch überzeugt. 

Ob es allerdings gut für mich und mein weiteres Leben gewesen wäre, wenn ich mein Studium abgeschlossen hätte? Da habe ich erhebliche Zweifel. 

Und das lässt mich dann doch wieder nachdenklich zurück.

Mit kryptischen Grüßen 

Horst

#56 Ich bin nur wegen den Blumen hier

Liebe Susanne,

auch wenn der Muttertag gestern war, möchte ich Dir noch von einer erstaunlichen Begebenheit berichten.

Ein VW Tiguan hält vor dem Blumenladen Mehringdamm/Ecke Bergmannstrasse, lässt die Scheibe runter und brüllt vom Beifahrersitz die ziemlich lange Warteschlange an:

 „Ihr wisst aber schon, daß dieser Scheiß-Muttertag, den ihr da feiert, von den Nazis kommt, oder?“

Alle sind perplex. Außer einer älteren Dame, die nach kurzem Überlegen mit bemerkenswert tragender Stimme antwortet:

„Abgesehen davon, daß der Muttertag in den USA erfunden wurde, werde ich in dem Moment aufhören ihn zu begehen, wo Du aufhörst, die Autobahnen zu benutzen.“

Nachdem sich der bedröppelte Tiguan mit runtergelassenem Fenster vom Bordstein gemacht hatte, hat sie uns anvertraut: 

„Eigentlich habe ich selbst ja auch gar nichts mit dem Muttertag am Hut. Ich bin nur wegen den Blumen hier. Und außerdem habe ich manchmal einfach Lust, böse zu den Blöden zu sein.“

Böse zu den Blöden sein. Welch schöne Formulierung. Wenngleich einen das böse zu den Blöden sein, ab und an auch selbst zum Blöden machen kann.

Als ich das letzte Mal böse zu einem Blöden war, habe ich mich zumindest auch nicht mit Ruhm bekleckert. Es passierte im Zug. Nach einem Sitzplatz-Disput. Ich war im Recht, aber er hatte den Platz, weil der Klügere nachgibt. 

Woran man sieht, was man davon hat, der Klügere zu sein. Nämlich ein schlechtes Gefühl und keinen Tischplatz. Ihm hingegen ging es sichtbar sehr gut. 

Als wollte er mich ärgern, hat er den Tisch dann gar nicht benutzt und nur gelesen. „Das zweite Zeichen“, ein Krimi von Ian Rankin. Also habe ich im Affekt den Roman gegoogelt und ihm kurz vor meinem Aussteigen den Mörder verraten. Als er mich nur verwundert angestarrt hat, habe ich ihm auch noch die Herleitung der Auflösung erläutert und geschlossen mit den Worten: „Schade, ist eigentlich ein ziemlich gutes und spannendes Buch, aber jetzt, wo sie alles wissen, wird es ihnen langweilig vorkommen.“

Woraufhin er tatsächlich ankündigte, mir gleich eins in die Fresse zu geben. Weshalb ich ihn aufklärte, daß ich mir den Mörder und die Herleitung nur ausgedacht hatte, um ihn zu ärgern. Denn selbst wenn man absichtlich böse ist, gibt es Grenzen.

 Eigentlich zumindest. Leider war es nämlich auch gelogen, daß ich mir den Mörder und die Herleitung ausgedacht hatte. Da ich es noch perfider fand, wenn er nun weiterlesen und erst nach und nach feststellen würde, daß er alles schon wusste. Von mir. Und mir jetzt keins mehr in die Fresse geben konnte.

Womit ich zusammenfassend sagen kann, daß ich mich hier wohl ziemlich blöde verhalten habe.

Blöde, aber reuevolle Grüße

Horst

#58 Ich war der Lastenausgleich

Liebe Susanne,

wie schön, daß Du Dich an die Muttihölle von Malediva erinnerst. Dadurch schieben sich auch in mein Hirn gleich ganze Schubkarrenladungen voll bester Nostalgie. Ein schöner Haufen, in dem ich jetzt einige Zeit lang wühlen konnte.

Irgendwann im Jahre neunzehnhundertweißnichmehr war ich bei Malediva in ihrer LateNight-Show in der Bar jeder Vernunft zu Gast. Lo und Tetta haben damals jeden Künstler mit einem Gedicht angekündigt. Meines endete mit den Zeilen:

„…doch will der Horst nen Abend, nen bunten,
geht er zu den singenden Tunten.“

Dieser Reim hat sich tief in mein Unterbewusstsein gefressen. Sobald heute jemand nur von einem bunten Abend spricht, kriege ich eine halbe Stunde lang nichts mehr mit. Denn in meinem Kopf singen und tanzen nun die bunten Tunten meiner Vergangenheit.

Dabei war ich bei diesen Abenden ein völliger Exot. Meine Geschichten haben das Publikum dort eher ratlos bis verstört zurückgelassen. Dennoch waren alle sehr, sehr freundlich zu mir. Ein bisschen in die Richtung von: „Naja, sowas muss es ja auch geben. Warum nicht auch mal jemanden, der in Alltagsklamotten, mit einer Alltagsstimme, Alltagsgeschichten vorliest, auf die Bühne lassen. Die Welt ist bunt.“

Ich war so eine Art personifizierter, künstlerischer Lastenausgleich. 

Sowas soll ja jetzt eventuell wieder kommen. Ein Lastenausgleich, wie nach dem zweiten Weltkrieg, um die Kosten der Krise gerechter auf die Gesamtbevölkerung zu verteilen.

Damals war ich die Gesamtbevölkerung, auf die die Bühnenzeit gerechter verteilt wurde. 

Wobei diese Metapher weder gut noch angemessen ist, aber wenn das jetzt auch noch eine Kategorie ist, kann man ja irgendwann gar nichts mehr schreiben.

Meine Tochter war vor einigen Jahren beim Frühstück mal sehr genervt von meinem damaligen Lustigkeitsanfall. Irgendwann hat sie daher gefragt, was eigentlich mein Rekord im ohne Unterbrechung nicht witzig sein wäre? 

Damals wusste ich keine Antwort. Wenn ich heute so drüber nachdenke, dürfte es wohl einer dieser Auftritte aus den Neunzigern gewesen sein. 

Was würde ich darum geben, wenn ich heute Abend in einer tuntenlastigen Mixed-Show mit meinen Texten nochmal so richtig abschmieren könnte. Es war eine großartige Zeit.

Das muss man dem aktuellen Verbot schon lassen. Mit jedem Tag, wo mir weitere Auftritte untersagt sind, werden meine Erinnerungen noch leuchtender und schöner. Nicht schlecht, Herr Specht. Womöglich befinde ich mich ja gerade doch in einer win-win-Situation.

Bunte Grüße

Horst

#60 Netflixhose oder Regenkleidung für drinnen

Liebe Susanne,

Ich sitze bei Videokonferenzen tatsächlich mittlerweile immer vor unserem Bild. Also wir besitzen genau ein richtiges Bild. Nicht wirklich teuer, aber man erkennt doch sofort, daß es von einer richtigen Malerin richtig gemalt wurde. Da wird man dann quasi selber zu Kunst.

Das musste ich aber auch erst lernen. Mein WDR-Redakteur macht sich heute noch darüber lustig, daß ich um 16.00 Uhr im Pyjama zum Zoomen erschienen bin. Ich habe ihm nicht verraten, daß es gar nicht mein Schlafanzug war. Den hatte ich nämlich sogar um 15.55 Uhr wirklich noch an gehabt. Bin dann aber schnell zum Angeben in meine Trainingssachen geschlüpft. 

Leider sieht mein Fitnessdress für WDR-Redakteure wohl wie ein Schlafanzug aus. 

Nun ja, tatsächlich habe ich in ihm ja auch häufiger geschlafen als trainiert. Vielleicht hat sich das arme Kleidungsstück einfach an sein Aufgabenfeld angepasst.

So wie meine Handwerkerhose, die mittlerweile auch eher wie eine Netflixhose aussieht. Ich habe überhaupt viel Funktionskleidung.

 Müslihemden, auf denen man die Joghurtflecken nicht so sieht. 

Müllrunterbringschuhe, die noch nicht kaputt genug zum wegschmeißen sind, aber doch schon zu gebrechlich, als daß man sich mit ihnen noch weiter, als bis in den Innenhof traut. 

Regenkleidung, die ich bei Regen trage, aber nur drinnen, weil sie empfindlich gegen Feuchtigkeit ist.

Außerdem natürlich jede Menge Schreibklamotten. Die ich extra zum Schreiben anziehe. Eigentlich nur, um die Zeit, in der ich so dasitze, vor mich hinstarre und vermutlich über etwas nachdenke, was ich sofort wieder vergesse, mit Sinn zu füllen.

Wenn ich meine Schreibsachen anhabe, ist es Arbeit. In normaler Kleidung wäre es ja nur ein vor mich hindösen. Das könnte ich mir schon rein zeitlich gar nichts leisten. 

Also ziehe ich mir meine Schreibsachen an und schon ist alles was ich mache quasi Dienst. 

Manchmal schlafe ich sogar in meinen Schreibsachen. Dann habe ich gefühlt die ganze Nacht durchgearbeitet. Danach bin ich dann aber auch ganz schön kaputt. Aber das ist ja ohnehin häufig. Also das ich direkt nach dem Aufstehen wahnsinnig müde bin. Ich nehme an, daß mich schlafen oft wahnsinnig anstrengt. Sonst wäre ich ja beim Aufstehn nicht so kaputt.

Gibt es eigentlich schon ein Start-Up, das auswechselbare Hintergründe für Videokonferenzen vertreibt?

 Also bedruckte Leinwände, die man hinter sich aufhängt. So daß man immer das passende Ambiente mit nur wenigen Handgriffen herstellen kann? 

Wollen wir nicht sowas gründen? 

Eine Firma für schnell austauschbare Videokonferenzhintergründe? 

Oder ein Fachgeschäft für Arbeitskleidung für Alleine-Zuhause-Arbeiter und innen.

Wie reich man wahrscheinlich werden könnte, wenn man Lust hätte zu machen, was einem so einfällt. Gut, daß wir auch so zurechtkommen.

Zufriedene Grüße

Horst