#31 Wie ich mal nicht verschickt wurde

Lieber Horst,

hach ja, Urlaub, ein schönes Thema. Und so ein theoretisches, derzeit… 
Wie gerne würde ich jetzt am Lecko Mio in der Sonne liegen und ein Dolomiti essen, die Grillen zirpen, aus dem Radio dudelt Santa Maria. Die Sonne brennt und die scharfen Ränder der abgezogenen Fantadosen-Verschlüsse funkeln im Sand, während ich in der Tasche nach der Sonnencreme (LSF 2) krame, aber leider sind die Erfrischungsstäbchen wieder ausgelaufen…   

Neulich hörte ich jemanden sagen, dass die Achtziger jetzt vierzig Jahre her sind. Ich persönlich halte das für ein gemeines Gerücht. Ich meine, das macht doch gar keinen Sinn, vor allem, weil ja noch Siebziger waren, als ich in der Grundschule war.

Unterhielten wir uns damals über die Ferien, waren immer einige Kinder dabei, die verschickt wurden. Das war damals groß in Mode in West-Berlin. 
Als meine Eltern mal wieder einen Urlaub auf Balkonien planten (Balkonien, die kleine langweilige Schwester des Lecko Mio), fragten sie mich, ob ich nicht auch einmal verschickt werden wolle in den großen Ferien. Ich lehnte sofort und vehement ab. Ich fand die Vorstellung, in so einen Pappkarton zu steigen und einfach irgendwohin verschickt zu werden, einfach viel zu gruselig. Und von meiner Tante Biggi in Premnitz wußte ich schließlich, dass Pakete von uns gerne auch mal ganz verschwanden. Und nie wieder auftauchten. Und dann half einem auch Aktenzeichen XY nicht mehr.
Allein die Tatsache, dass meine Eltern überhaupt in Erwägung zogen, mich zu verschicken, fand ich damals zutiefst verstörend. Immerhin war mein Nein so vehement, dass sie nie wieder fragten.

O Mann, und jetzt werde ich wieder den ganzen Tag Santa Maria vor mich hinsingen, ich merke es schon, in meinem Kopf summt die ganze Zeit so ein leises Umnana-umnana-umnana-hua… Ich bin wirklich extrem anfällig für Ohrwürmer, das ist manchmal ziemlich anstrengend. 

Gestern war es I would do anything for love von Meat Loaf. Das kam mir in den Sinn, als ich im Bad vor dem Spiegel stand und mich schminkte, und ging dann den ganzen Tag nicht mehr weg. 
Erinnerst Du Dich an das Video? Das war so eine Die-Schöne-und-das-Biest-Inszenierung. Am Ende küsst die schöne Frau das Biest und Licht fällt ein und die Kamera zoomt ran und dann ist es – Meat Loaf. 

Heute ein wenig retro grüßen Dich

Susanne & der Braune Bär

#32 Wenn’s wenigstens langweilig wäre

Liebe Susanne,

als ich der Familie gerade sagte, ich würde noch etwas für unseren Blog schreiben, fragte die mich doch tatsächlich, ob mir dieser Krisenkalender denn nicht langsam mal langweilig werde. 

Meine (auch für mich recht überraschende) Antwort war: „Wenn ich mit Dingen aufhören würde, wenn sie mir langweilig werden, wäre ich schon seit über dreissig Jahren tot.“

Ich fürchte, ich meine das ernst. Es soll ja Menschen geben, die Angst haben, daß sie vor Langeweile sterben könnten. Diese Angst hatte ich noch nie. Langeweile war schon immer mein Freund. Langeweile ist Frieden. Die Ruhe, in der die Kraft liegt. Die meiste Zeit meines Lebens sehne ich mich nach Langeweile, denn sie macht es möglich, daß man endlich mal Zeit für richtig interessante Dinge hat.

Das ist ja auch praktisch mein Hauptvorwurf an diese Corona-Krise. Sie ist nicht langweilig. Sie ist anstrengend, zerrt an den Nerven und macht Angst. 

Wobei ich ja auch eigentlich nichts gegen Angst habe. Angst schärft die Sinne. Diese unerträgliche Angst vor einem Auftritt, einer Premiere zum Beispiel, ist eine großartigsten Sachen, die ich je erleben durfte. Diese Angst macht lebendig und zeigt mir immer wieder, wie sehr sie mir hilft, Dinge zu tun, die ich ohne Angst niemals schaffen würde. Diese Angst ist eine unabdingbare Zutat zum Glück. Ohne sie würde das Ganze sehr viel weniger Spaß machen.

Doch die Corona-Angst gebärt kein Glück. Sie ist nur dumpf und doof und lähmend.

Daher würde ich mir natürlich wünschen, daß es mir endlich langweilig würde. Denn das wäre ein aufregendes Zeichen der Hoffnung. Und  ich könnte endlich wieder eine Angst haben, die sich auch lohnt. 

Hoppla, nun ist mir der heutige Beitrag doch ein wenig selbstmitleidig geraten. Daher noch zwei Sätze die die Supermarktkassiererin heute wörtlich so sagte:

 „Wenn die wenigstens wieder Fussball spielen würden. Denn wüsste ich endlich wieder, was ich verpasse, wenn ich die ganze Zeit kein Fernsehen gucke.“ 

Da hat sie recht. Auch mir fehlen besonders die Dinge, die mich nicht interessieren, immer mehr.

Auf ein Helles, aufs Gemüt

Horst

#33 Ein bißchen Gaga

Lieber Horst,

als die Kinder noch klein waren, kamen sie manchmal an und jaulten mit Schippchen im Gesicht: „Mir ist lannngweilig…“ Während ich die Augen rollte und sofort überlegte, welcher sinnvollen Beschäftigung ich sie als Nächstes zuführen könnte, rief meine kluge Freundin Nina an dieser Stelle nur begeistert aus „Super, dann hast Du gleich eine tolle Idee!“ und schickte sie mit verheißungsvollem Zwinkern wieder in ihr Zimmer. Das funktionierte nicht nur, sondern hat auch meine Meinung über Langeweile als solche nachhaltig beeinflusst.
Ja, auch ich vermisse dieses gesunde Maß an Langeweile, freundlicher leichtsinniger Langeweile.  Aber für die Kultur sieht es ja nun wohl noch eine ganze Weile schlecht aus. Das einzige mit Kultur- sind bei mir zu Hause gerade die Champignons. 

Die Meinung Deiner Kassiererin teile ich voll und ganz. Man möchte so gerne mal wieder was verpassen. Ich zum Beispiel habe heute ganz bewußt meine Chance verpasst, Toilettenpapier zu kaufen. Es gab zwar welches, aber von der Marke „Origami“, das war mir einfach zu albern.

Ansonsten kompensiere ich die mangelnde Action oft in meinen Träumen, wie es scheint.
Letzte Nacht zum Beispiel war ich eine Art Superheldin, mit Cape und allem, ich sah toll aus! Als solche half ich alten Damen mit Gehbehinderung, ihren Zug zu finden. Elastigirl bei der Bahnhofsmission – Heldenträume einer Sozialarbeiterin. 
Aber auch Du tauchst manchmal auf, zuletzt als Barkeeper im Jurassic Park. Darüber können wir ja jetzt beide mal nachsinnen.

Die Psychologenvereinigung hat gestern darum gebeten, so erzählte mir meine Cousine, die völlig überlasteten Krisen-Hotlines mit Bedacht zu nutzen. Es sei völlig in Ordnung, in diesen Zeiten der sozialen Distanzierung mit Pflanzen und Gegenständen zu sprechen. Man solle erst anrufen, wenn sie antworten. 
Ich fand das sehr schlüssig und habe eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass es sich dabei um einen Witz handelt. Soweit ist es schon, Horst, man muss mir Witze erklären.

Apropos Witz, Donald Trump hat – (das mal ne Überleitung, oder?) –
Nein, im Ernst, Donald Trump hat ja nun der WHO das Geld eingefroren. Nun muss Lady Gaga ran. Eine Meldung, die wir vor wenigen Wochen vermutlich auch noch als Witz gewertet hätten. Das Online-Konzert „One World – Together at home“ jedenfalls beginnt heute Abend. Ob sie ein Cape trägt? Vielleicht schaue ich mal rein. 

Ich habe Dir ja schon von meiner ausgeprägten Neigung zu Ohrwürmern erzählt. Seit dieser Meldung singe ich natürlich unentwegt We are the World vor mich hin, diesen Achtziger-Jahre-Schinken, der heute Morgen allerdings jäh abgelöst wurde von Smells like Teen Spirit. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass ich am Wäschekorb vorbeigelaufen bin. 

Mit dem inbrünstigen Refrain dieses Meilensteins der Musikgeschichte, das mein gegenwärtiges geistiges Level auszudrücken vermag wie kein anderes, will ich also schließen, und sende ein fröhliches Hallo? Hallo? Hallo? nach Kreuzberg. 

Schwing den Cocktailshaker, Horst, klopf den Staub vom Cape und lass Dich nicht unterkriegen.

Liebe Grüße,
Susanne

#34 Abtanzball

Liebe Susanne,

ich würde es wirklich niemals wagen, Deine Träume zu deuten oder gar zu kritisieren. Doch wenn Du Dich schon in den Jurassic Park träumst. Wo es ja nun wahrlich viel Spektakuläres und Aufregendes zu erleben gäbe. Warum verbringst Du dort dann Deine Zeit in der Bar? 

Klar, es ist Dein Traum. Aber wäre das denn nicht mal der Moment, wo man mit seinem Unterbewusstsein auch mal Tacheles reden sollte und ihm ganz klar sagen, da hätte man sich nun echt mal mehr von ihm erhofft? Ich hoffe, ich habe beim barkeepen nicht auch noch gesungen. Womöglich „Pokerface“.

Auch interessant finde ich hingegen den Hinweis der Psychologenvereinigung. Seit wann ist es denn nicht mehr normal, wenn einem Blumen und Gegenstände antworten? Ich habe einige der wichtigsten Ratschläge meines Lebens von meinen Einrichtungsgegenständen bekommen. 

Einen Tag und zwei Nächte habe ich mit meiner Jugendzimmerschreibtischlampe diskutiert, bis sie mich endlich überredet hatte, zum studieren nach Berlin zu gehen. 

Diese Lampe hatte mir übrigens Jahre zuvor Ingo geschenkt, der keinen Hund haben durfte und deshalb einem Ferkel das Stöckchen holen beigebracht hatte. Eigentlich hatte die aber seinem Bruder Jens gehört, der später fast seinen Hauptschulabschluss nicht bekommen hätte, weil er einem Lehrer mit der nackten Faust ins Gesicht geschlagen hat. Was aber ein Missverständnis war, da er sich einfach verhört hat, wie Jens später immer wieder beteuerte. Was er eigentlich gehört haben wollte, hat er nie verraten. 

Es kann aber sein, daß es ihm die Schultafel geraten hat. Das vermutete zumindest Sonja, die auch mehrfach das Gefühl hatte, diese Tafel würde zu ihr sprechen. Sonja hatte ich kennengelernt, weil ihr Tanzschulpartner unmittelbar vor dem Abtanzball erkrankt war und meine Partnerin Katrin sich auch kurz vor diesem Abschlussabend in Detlef verliebt hatte, wodurch nun Sonja und ich zum Paar wurden.

 Allerdings haben sich dann Detlef und Katrin noch am Abend des Balles wieder zerstritten und getrennt, weshalb am Ende Detlef grußlos gegangen und schließlich Sonja und Katrin zusammen getanzt haben.

Für mich war somit das Ganze sehr unglücklich verlaufen. Bis kurz vor Schluss, Da habe ich nämlich Susanne (der Name stimmt wirklich!), die Tochter des Wirtes kennengelernt, die am Tresen ausgeholfen hat. Sie hat für mich den Abend und noch viele weitere Wochen gerettet. Und hätte das Lokal meines Abtanzballes jetzt Jurassic Park geheißen, wäre das eine richtig runde Geschichte. 

Doch leider ist das aber ja das richtige Leben nie rund, sondern nur eine Abfolge kruder Erinnerungen, die meistens erst dann einen Sinn ergeben, wenn man sie vergessen hat.

Doch wer kennt das nicht.

Bis demnächst in der Jurassic Park Bar

Horst

#35 Leise rieselt der Putz

Lieber Horst,

Gestern rief mich eine Freundin an – man telefoniert ja wieder – und fragte, ob mir denn auch schon die Decke auf den Kopf fällt. 
Über diese Formulierung habe ich im Nachhinein tatsächlich noch eine Weile nachgedacht, und komme zu dem Schluss, dass sie meinen derzeitigen Zustand nicht wirklich gut beschreibt. Da fällt nichts mit Krawumms herab. Vielmehr rieselt leise und stet der Putz … Und das macht auf Dauer ganz schön nervös. 

Ab und zu mit lieben Menschen zu sprechen tut gut. Oder wer halt sonst gerade da ist. Apropos, mein Deckenfluter lässt Deine Schreibtischlampe herzlich grüßen, schön, dass sie Dich von Berlin überzeugt hat, lässt er ausrichten. (Ja, er ist ganz nett, aber ehrlich gesagt, taugt er nur bedingt als Gesprächspartner. Ist mehr so der zerstreute Typ, mit integriertem Diffusor, da kann er wahrscheinlich nicht anders).

Doch zurück zur Decke auf dem Kopf. Mit Redewendungen ist es ja so eine Sache. Ich mag diese bildhafte Sprache und nutze sie sehr gerne, aber nicht jeder versteht sie. 
Nehmen wir zum Beispiel meine Söhne. Bei Tisch erzählte einer der beiden neulich eine sehr anrührende Geschichte, da hielt ich kurz inne und sagte „Oh, mir wird das Herz ganz weit!“ …
Beide guckten mich daraufhin für einen Moment erschrocken an, sahen dann aber, dass es mir offenbar gut ging.  „Kennt Ihr den Ausdruck nicht?“ fragte ich erstaunt. „Nee“ sagten sie „Aber das klingt doch voll ungesund, nach Anabolikamissbrauch oder so.“
So hat halt jeder seine Assoziationen. 

Aber nun, auch mir ist das ja nicht fremd, dieses fatale Wörtlich-Nehmen, also zumindest im Kopf. Nehmen wir beispielsweise diese berüchtigte Reproduktionszahl, über die im Zusammenhang mit Corona immer wieder gerne gesprochen wird, und die im besten Fall unter 1 liegen sollte. Ein Wissenschaftler erklärte das im Inforadio heute mit den schönen Worten „Das bedeutet, dass ein Infizierter etwas weniger als einen Menschen ansteckt“. Da wird es mit den Bildern in meinem Kopf schon schwierig. Das ist wie mit den 1,6 Kindern pro Frau. Aber egal. 

Was sie im Radio jedenfalls noch gesagt haben, ist, dass Bruno Labbadia als neuer Hertha-Trainer vorerst „auf weite Teile seines Gehalts verzichtet“. 
Lieber Horst, ich sag´s jetzt mal wie es ist: wenn ich groß bin, will ich auch mal ein Gehalt haben, das man in „weiten Teilen“ bemessen kann. 

So, jetzt gehe ich erstmal einkaufen. Im Kühlschrank ist Ebbe, wir haben uns das Wochenende wieder schön gegessen. 
Ich war heute früh mal auf der Waage. Also – ich will hier keine Zahlen nennen, aber so langsam nähern wir uns den Frequenzbereichen gängiger Berliner Radiosender. 
Wenn also bei den Nachbarn unter uns auch langsam der Putz von der Decke rieselt, könnte das ganz verschiedene Gründe haben.

Irgendwo zwischen Schwer und Mut,
Galgen und Humor,
Kaffee und Gin 

grüßt Dich herzlich

Susanne 

#36 Flatten the Horst

Liebe Susanne,

auch ich habe seit Corona schon mehr als zweieinhalb Kilo zugenommen. Ich sehe diese Entwicklung mit großer Sorge und versuche den Verlauf dieser Bruttogewichtsneuzunahme bereits seit einiger Zeit durch statistische Erfassung unter Kontrolle zu kriegen.

Zu Beginn der Krise, als mir der sprunghafte Anstieg des Körpergewichts zum ersten Mal auffiel, habe ich es mit „flatten the Horst“ versucht. Es ging einfach darum, die Geschwindigkeit der Gewichtsverbreitung zu bremsen. Also die Zahl der Tage, in denen sich die Grammzahlen der Gewichtszunahme verdoppelt haben, immer weiter zu strecken. 10 bis 14 Tage waren mein Ziel. Als dies erreicht war, habe ich auch die Reproduktionszahl R genauer beobachtet, Sie musste unter eins (R1) sinken. Also jedes neue Gramm Körpergewicht durfte nur noch ein weiteres Gramm Körpergewicht verursachen. Besser natürlich weniger als ein Gramm. Ideal wären R 0,2 oder 0,3. Dann könnte ich den Gewichtszunahmevirus eventuell austrocknen und dadurch schon bald zu einem vergleichsweise normalen Leben zurückkehren.

Es gab Stimmen in meinem Körper, die gerne auf die Strategie des Herdenübergewichts gesetzt hätten. Dies hätte bedeutet, daß man einfach 70 bis 80 Prozent der Gesamtbevölkerung durchübergewichtet. Wodurch die dann irgendwann so dick sind, daß mein Übergewicht in der Gesamtbevölkerungsmasse gar nicht mehr auffällt. Doch diese Strategie ist jetzt vom Tisch. Auch weil man nicht weiß, ob Übergewicht nicht doch auch für junge Menschen schwere Verläufe haben kann.

Stattdessen jetzt also Austrocknen und dann „trace the trail“, wo ich eben hoffentlich bald schon jede Neugewichtszunahme exakt zur Ursprungskalorie zurückverfolgen kann. Jeden Gewichtsveränderungsverlauf dokumentieren und wahrscheinlich per HandyApp direkt den zuständigen Körperorganen melden kann. Ich denke, damit kriege ich das Ganze in den Griff. Ich habe ein gutes Gefühl.

Wird bestimmt nicht einfach, aber wenns einfach wäre, könnte es ja jeder.

Viel Erfolg uns allen

Horst

#37 Sehnsucht nach Gewitter

Lieber Horst,

Das mit der persönlichen Wachstumskurve finde ich einen interessanten Ansatz. Toi toi toi! Und für den Fall, dass das alles nichts hilft, möchte ich Dir ein tröstliches Wort anbieten, das mir jüngst begegnete und das ich sehr lange nicht gehört hatte: das Wort „vollschlank“. 
Ich hatte auch als Kind mal eine Phase, in der ich etwas runder war. Da aber alle Erwachsenen immer davon sprachen, dass ich „voll schlank“ sei, dachte ich: Na, dann kann es so schlimm ja nicht sein. Frei nach Pippi Langstrumpf, ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt. Und letzten Endes doch auch irgendwie eine frühe Form von Resilienz. 
Ich beschließe also ab heute, voll schlank zu sein. Wir treten ja eh meist im Schummerlicht auf, Horst, und auf der Straße können viele Leute uns gerade eh nicht so genau erkennen, weil über diesem elenden Mundschutz die Brillengläser immer so beschlagen. 
So hat doch alles auch sein Gutes. Man könnte weinen. 

Ansonsten bin ich heute eher auf Krawall gebürstet. Wohl dem, der nicht zu meinen Kontaktpersonen gehört. 
Ich kann das C-Wort einfach nicht mehr hören.
Von morgens bis abends auf allen Kanälen, nichts anderes. Und dieser ewig blaue Himmel provoziert mich langsam auch, strahlt da vor sich hin als ob nichts wäre. Von mir aus könnte es jetzt ruhig mal gewittern, so ein richtiges Donnerwetter, das fände ich einfach angemessen. Aber nix. Alles muss man selber machen. 

Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, aber es ist nicht zuletzt das Thema Homeschooling, das mich zunehmend in den Wahnsinn treibt. 
Oder Hassaufgaben, wie es der Sohn einer Freundin inzwischen nennt. 
Mein Jüngster gehört ja zu denen, die nun doch noch planmäßig ihre MSA-Prüfungen ablegen sollen, was nach derzeitiger Lage wirklich schwer vollstellbar ist. Auch er ist also auf Krawall gebürstet – aber gut, er ist 16, da gehört sich das auch so.

In der Vergangenheit hat er sich oft darüber beklagt, dass die Themen des Lehrplans so gar keinen Bezug zum wirklichen Leben hätten und aktuelles politisches Geschehen viel zu selten diskutiert würde.  Das kriegt er jetzt gerade doppelt und dreifach zurück, denn – sämtliche Fächer werden mit Corona-Bezug präsentiert. 
Mathe? Darstellung der Corona Ausbreitung mit exponentiellen Graphen.
Geo? Landesspezifische Maßnahmen zur Ausbreitung der Corona-Pandemie. 
Deutsch: Politische Lyrik am Beispiel eines Corona-Songs. 
Ethik: Freiheit und Verantwortung in Zeiten von Corona. 

Hurra.

Das Thema, das er sich für seine MSA-Präsentationsprüfung ausgesucht hat, lautet übrigens „Anspruch und Wirklichkeit der schulischen Ausbildung in Deutschland“, hatte ich das schon erwähnt? So sucht sich halt jeder seinen Kanal. 
Als ich gestern etwas sorgenvoll zu ihm sagte „Hauptsache, Du schaffst den Abschluss irgendwie!“ antwortete er nur:
„Klar, mach Dir keine Sorgen. Notfalls mache ich halt so einen Job, wo ich den ganzen Tag Rezepte ausstelle. Dafür habe ich auf jeden Fall schon mal die richtige Handschrift.“ 

Manche sagen, den Humor hat er von mir. Ich weiß nur noch nicht so genau, wie ich das finde.

Liebe Grüße sendet Dir

Susanne 

PS: Wenn es noch einen Beleg braucht, dass die Welt aus den Fugen ist:
Das Oktoberfest ist abgesagt und der BER soll eröffnet werden! (*hysterisches Kichern*) 

#38 Popcorn

Liebe Susanne,

ich möchte Dir und Deinem Sohn mein ehrliches Mitgefühl ausdrücken. Ich fürchte, es gibt einen speziellen Ort in der Hölle für Pädagogen, die politische Lyrik anhand eines Corona-Songs analysieren lassen. Und dieser Ort ist nicht schön. Das tut mir auch für den Pädagogen oder die Pädagogin leid. Ich hoffe, es war zumindest nicht Silbermond. Sonst straft der Teufel einen auch gerne mal mit einem lebenslangen, bösartigen Ohrwurm.

Das macht er bei mir beispielsweise mit dem Quasi-Lied „Popcorn“. Wann immer ich nicht wachsam bin, höre ich völlig sinnlos dieses Synthesizer-Stück. „Didi didi didi dit, didi didi didi dit, didi dididididiii dididididiii dididididiiiii di…“ Aus dem Nichts.

Für welches Vergehen in meiner Kindheit ich da büße, ist unklar. Es muss jedoch etwas wirklich Schlimmes gewesen sein.

 Vielleicht, als ich damals, beim Holen der großen Europakarte von 1848, im Kartenraum heimlich angefangen habe, mein Pausenbrot zu essen. Was streng verboten war. Also im Kartenraum zu essen. Weshalb ich das Brot schnell versteckt habe, als plötzlich ein anderer Lehrer hereinkam. 

Es dann jedoch vergessen habe. Das Brot. Einige Monate, eventuell auch Jahre lang. 

Mich nur, wie alle Lehrer und Schüler, immer gewundert habe, warum es im Kartenraum so irrsinnig unangenehm riecht. Bis schliesslich das mittlerweile von einer handbreithohen Schimmelschicht bedeckte Brot von Sönke Lahrmann gefunden wurde.

Sönke, der drei Jahre vorher mal gewettet hatte, daß er eine ganze, riesige, vierschichtige  Erdbeere-Sahne-Torte alleine aufessen kann. Was er nicht geschafft hat, da die Wette als verloren galt, wenn man sich mehr als einmal übergibt. Also noch bevor die ganze Torte gegessen ist. Wobei er sie dann am Ende schon noch komplett vertilgt hat. „Wegen der Ehre“, wie er meinte. Hat ihm aber von wegen der Wette nichts mehr genützt.

Als mein angebissenes Wurstbrot oder der vielmehr der Schimmelhügel, zu dem es geworden war, gefunden wurde, habe ich mich sofort erinnert. Aber trotzdem nichts gesagt. Ich glaube seitdem höre ich mindestens fünfmal die Woche unerwünscht „Popcorn“. Einfach so. Könnte schon sein, daß es da einen Zusammenhang gibt.

Dazu noch eine kurze aktuelle Geschichte vom Sohn meiner Cousine. Der ist nämlich vor drei Wochen zuhause ausgezogen. Mitten in der Kontaktsperre, was eine Geschichte für sich ist, die ich jetzt aber nichts erzähle.

 In jedem Falle hat meine Cousine ihn jetzt besucht. Und wie eine Mutter das so macht, vorher gefragt, ob ihm noch was fehlt in der Wohnung. Woraufhin der Sohn wörtlich meinte:

 „Nee, eigentlich nicht.“ 

Also kommt meine Cousine nur mit frischen Handtüchern dort an. Was sich als ziemlich umsichtig erweisen sollte. Allerdings stellt sie dann fest, daß ihr Sohn seit drei Wochen in Corona-Sperre dort lebt und nur eine Fritteuse besitzt. Also keinen Topf und keine Pfanne. Nichts. Nur eine Fritteuse. Und er hat „eigentlich nicht“ das Gefühl, daß ihm was fehlt. 

Meine Cousine meint nun, diese kleine Anekdote bringe den Unterschied zwischen Jungs und Mädchen ziemlich präzise auf den Punkt. Denkst Du, da ist was dran?

Fragende Grüße

Horst

#39 Ganz andere Sorgen

Lieber Horst,

Heute Morgen, ich gebe es zu, habe ich zunächst wieder ein wenig Trübsal in meinen Kaffee geblasen. Heute Abend hätte ich eine Lesung gehabt, auf die ich mich schon sehr lange gefreut hatte. Aber nu. Hätte, hätte, … was weiß ich. Infektionskette vielleicht.
Mittlerweile konnte ich die trüben Gedanken wieder etwas beiseite schieben. Alles ist relativ, sage ich mir, andere Leute hatten vielleicht noch viel weitreichendere Pläne, die sie nun verschieben müssen?

An der Bushaltestelle bei uns gegenüber hängt seit gestern ein Hochzeitskleid.
Das ist wirklich ein seltsamer Anblick. Es ist an einem Stock befestigt und frei schwebend im Wartehäuschen aufgehängt, dadurch sieht es wirklich ein wenig unheimlich aus, vielleicht hast Du Fluch der Karibik gesehen.
Die Haltestelle ist gerade stillgelegt, wegen der Straßenarbeiten. 
Es ist sozusagen ein stillgelegtes Hochzeitskleid an einer stillgelegten Haltestelle. Wenn es noch ein Symbolbild für den Shutdown braucht – voilà! 
Ein umsichtiger Anwohner, der es vermutlich nicht aushielt, dass da so ohne jede Erklärung einfach ein Kleid hängt, hat nun einen Zettel daran angebracht:
„Motiv des Besitzers unklar. Vor Benutzung vorsichtshalber waschen.“
Irgendwie nett. Aber irgendwie auch sehr Steglitz. Mal gucken, wie es weitergeht. 

Ich habe meinen Söhnen übrigens von dem jungen Mann mit der Fritteuse erzählt, beide kriegten sofort so einen Glanz in den Augen. „Stark“ meinte der eine ehrfürchtig. „Dann hat er alles“ befand auch der andere.
Meine Söhne sagen ja auch mal Sätze wie „Der Donut ist der coole Bruder vom Eierkuchen“. Sie probieren durchaus mal die Ingwer-Koriander-Suppe an Dinkelbaguette – aber irgendwas frittieren, das ist für sie der Olymp der Kochkunst. Sie würden auch Spargel frittieren. 
Wenn der junge Mann also irgendwann Mitbewohner sucht, hier wären zwei Anwärter. Eine zusätzliche Anschaffung würden sie dann vielleicht doch noch tätigen, haben sie sich gerade überlegt: eine Microwelle. Wegen des Popcorns. Und so schließt sich dann wieder der Kreis, Horst. Didi didi didi dit.  

Was sie bei einem Auszug auf jeden Fall auch mitnehmen würden, wäre die Spielkonsole.
Zurzeit spielen sie ein Spiel namens Animal Crossing, ein recht harmloses Real Time-Game, wie mir scheint, bei dem man als Dorfbewohner umherstreift, ab und zu einen Fisch fängt und Obst vom Baum schüttelt, um es im Laden von Tom Nook und seinen Neffen Nepp und Schlepp zu verkaufen. Es gibt Eugen, die Eule, und Thorsten, den Bären. Thorsten ist gut gebräunt und durchtrainiert, schenkt man ihm einen Fisch, kann es sein, dass er einem eine Klimmzugstange zurückschenkt. Ich glaube, Du hast ein Bild. 
Die PETA hat nun eine Art Tutorial veröffentlicht, wie man dieses Spiel vegan spielt. Keine Fische fangen, Muscheln am Strand liegen lassen, achtsamer Umgang mit Bäumen und Früchten. Hammer. Und ein weiteres Beispiel dafür, dass manche Menschen tatsächlich ganz andere Sorgen haben.
Sind Ego Shooter Spiele eigentlich vegan?

Ach, apropos vegan. Letztes Jahr wollte der Jüngste nicht mit zum Sommerfest in Opas Pflegeheim, Begründung: „Die tanzen bestimmt wieder Bolognaise.“
Mit diesem schönen Bild lasse ich Dich jetzt mal alleine.

Sonnige Grüße aus dem Wartehäuschen
von

Susanne

#40 Ganz in weiss

Liebe Susanne,

Hängt das Hochzeitskleid dort immernoch?

Falls ja, würde es Dir etwas ausmachen, dann kurz nach der Größe zu gucken? Wenn die so ungefähr im Bereich „S“ wäre, hätte ich vielleicht eine Abnehmerin. Was man hat, das hat man.

Wohl jeder kennt Geschichten von Männern, die sich eine Pilotenuniform haben maßschneidern lassen, um mit der bessere Chancen bei Frauen zu haben. Ich aber hatte tatsächlich mal eine Bekannte, die gerne im Hochzeitskleid ausgegangen ist. 

Das hatte sie billig auf einem Flohmarkt ergattert. Geheiratet hat sie darin niemanden, aber kennengelernt jede Menge Leute. Bis heute schwört sie darauf, daß es nichts Besseres gibt, wenn man sehr viel angesprochen werden möchte. Eine allein unterwegs seiende, etwas traurig schauende Frau im Hochzeitskleid interessiert jeden Mann. Und auch jede Frau. 

Zudem kann man sich alle Geschichten ausdenken, die man nur will. Einem Hochzeitskleid, diesem Unschuldsweiss glaubt jeder alles. Tausend Gründe warum sie angeblich vor der Hochzeit in letzter Sekunde geflohen ist, hat sie sich zusammengesponnen. Nicht geglaubt wurden nur:

  • sie sollte mit einem Huhn verheiratet werden
  • sie hat versehentlich die Familie des Bräutigams ertränkt, weil sie deren Hochzeitsboot auf der Spree zum Kentern gebracht hat
  • der Bräutigam hat die Hochzeit abgesagt, weil er erfahren hat, daß sie sich im Zeugenschutzprogramm befindet

Alle anderen Räuberpistolen hat man ihr abgenommen. Egal ob es „habe einfach die Kirche nicht gefunden“-Variationen oder eine „habe Sekunden vor der Trauung bemerkt, daß mein Zukünftiger bereits eine andere Familie hat“-Spielarten waren.

Ob sie das heute noch macht, weiß ich leider nicht. Also im Moment natürlich sicher nicht, da man ja gar nicht mehr ausgehen und Leuten dummes Zeug erzählen darf. Was schade ist. 

Ich glaube, ich würde sehr gerne mal wieder am Wochenende fremde Menschen treffen, damit man sich zur gegenseitigen Unterhaltung anlügen kann.

Man staunt doch immer mal wieder, was einem so alles fehlt, wenn man mal mit dem Vermissen angefangen hat.

Am Sonntag wäre Frühschoppen-April-Derniere gewesen. Ich hätte nicht gekonnt. Das Bedauern von Dingen, die ich verpasst hätte, fehlt mir auch. Denn wenn es nicht stattfindet, kann man es ja nichtmal verpassen und das bedauern. Das mir sogar das fehlt, wundert mich jetzt schon.

Staunende Grüße

Horst