Liebe Susanne,
ich weiß nicht, ob es tröstet, aber mit Deinem Corona-Koller befindest Du Dich derzeit in der Mitte der Gesellschaft. Man kommt sich vor, wie in einem Wartezimmer, in dem einem niemand sagen kann, wie lange es ungefähr noch gehen kann. Nur ab und zu laufen Leute durch den Raum die „Oh, oh, oh, oh, oh“ raunen. Oder „Weiß man nicht, wann’s wieder losgeht. Kann noch lange dauern, kann sich aber auch richtig ziehen:“
Also beschäftigen wir uns. Irgendwie. Unser Nachbar zum Beispiel wollte wohl den Karfreitag nutzen, um mal die Fahrräder der Familie zu reparieren. Im Innenhof. So daß ich ihn stundenlang dabei beobachten konnte. Denn leider war seine Vorgehensweise der meinen sehr, sehr ähnlich. Zunächst hat er alles vor sich aufgebaut. Dann offensichtlich Hunger bekommen und mehr als eine Stunde lang Proviant und Getränke für die Arbeiten organisiert, bis er endlich ein Buffet hatte, dem er soweit vertraute, daß er daraufhin erstmal alle Räder irgendwie auseinander genommen hat. Er wirkte dabei fröhlich und energiegeladen.
In dem Moment aber, wo er endlich quasi alle Räder komplett in die Einzelteile zerlegt hatte, wurde er schlagartig unglaublich müde. Ab da saß er regungslos ihm Hof, starrte auf die auseinander geschraubten Räder, aß, trank und dachte nach.
Ich kenne dieses Gefühl extrem gut. Es war, als würde ich mich dort unten sitzen sehen. An diesem Punkt gibt es noch genau zwei Möglichkeiten. Entweder man erwischt einen magischen Augenblick, rafft sich schlagartig auf und schraubt doch noch alles wieder leidlich funktionstüchtig zusammen.
Oder man holt eine Kiste. Wo alles reingelegt wird. Erstmal. Bis man es irgendwann fertig macht. Unser Keller steht voll solcher Kisten.
Nun jedoch sitzt unser Nachbar im Hof und starrt regungslos die ihm immer fremder werdenden Fahrradteile an. Ich würde ihm so gerne helfen. Doch die einzig sinnvolle Hilfe, zu der ich mich in der Lage sehe, wäre ihm eine passende Kiste für die Einzelteile zu bringen.
Könnte das eine Metapher sein? Also für unser gesellschaftliches Leben, das wir auch gerade komplett auseinander genommen haben. Und nun sitzen wir da, starren es an und fühlen uns urplötzlich nur noch unsäglich müde?
Wenn, dann wäre es eine schlechte Metapher. Also ich zumindest würde mir, wenn ich mir eine Metapher ausdenken würde, gewiss eine sehr viel bessere ausdenken. Doch wozu sollte ich?
Stattdessen geschieht etwas, was man sich nicht ausdenken kann. Eine andere Anwohnerin, die offensichtlich so wie ich den ganzen Tag den Nachbarn beobachtet hat, ruft laut in den Hof:
„Komm, es ist Karfreitag. Für die Auferstehung der Fahrräder hast Du noch bis Sonntag Zeit!“ Das ist mal ein wirklich einleuchtendes Argument, was auch ihm einen gutgelaunten Feierabend ermöglicht. So einfach kann es sein.
Als ich im letzten Herbst endlich mal in Kurve gekriegt habe und tatsächlich das alte schöne Schuhregal aus einer der Kisten zusammengebaut habe, war ich ziemlich stolz. Zumindest solange, bis ich rund vier Wochen später, bei einem erneuten Gang in den Keller feststellen musste, daß das alte schöne Schuhregal offensichtlich in einer anderen Kiste lagerte.
Bis heute weiß ich nicht, aus was ich da eigentlich das alte schöne Schuhregal zusammengebaut habe. Immerhin erklärte sich so, warum das alte schöne Schuhregal nach meinem wieder zusammen bauen, überhaupt nicht mehr schön war.
Mögen alle Deine Kisten immer gut beschriftet sein
Horst
Lieber Horst, liebe Susanne,
Zeit ist ein sehr wichtiges Thema zur Zeit. Ich habe davon momentan so viel, dass ich jetzt schon den zweiten Kommentar zu eurem Blog am selben Tag schreibe. Zu sowas hätte ich „früher“, wie man die Zeit vor Corona ja mittlerweile nennt, weder Zeit noch Lust gehabt.
Eine sehr schöne Metapher auf diese unsere Zeiten fand sich gestern im Coronarfreitagsprogramm des Bayerischen Rundfunks. Bayern ist ja besonders infiziert. Möglicherweise deshalb hat der BR den Zuschauern im Nachtprogramm den monumentalen Spielfilm „Die Bibel“ angeboten.
Ich habe das Angebot angenommen, was an sich schon eine Metapher auf diese Zeiten ist. Eine der Episoden des Films handelt von Noah. Eigentlich handelt sie jedoch vom Warten.
Zuerst wird wochenlang auf die Sintflut gewartet und dabei die Arche gebaut, während sich der verständnislose Rest der Menschheit über die übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen Noahs und seiner Sippe lustig macht. Als dann die Flut da ist und 99,9 Prozent der Menschheit ihre Arglosigkeit teuer bezahlt haben, heißt es für die Familie erneut warten. 40 Tage zunächst. In einer Arche ohne Fenster, mit unzähligen Tierpaaren. Der Lärm, der Gestank! Und Klopapier und Nudeln sind noch nicht mal erfunden…
Nach 40 Tagen hört es zwar auf zu regnen, aber an eine Rückkehr zum Alltag ist noch längst nicht zu denken. Erst nach unzähligen Verlängerungen der der häuslichen bzw. archetypischen Quarantäne kommt nach vielen Monaten wieder Land in Sicht.
Womit sich Noah und Familie die Zeit ohne außerfamiliäre Kontakte vertrieben, zeigt der Film leider nicht so richtig. Erfreulicherweise kam es aber aufgrund der Kooperation aller Beteiligten inkl. der in ihrem Naturell ja sehr unterschiedlichen Tiere zu keiner Zunahme von häuslicher Gewalt. Im Gegenteil: Es wurde sogar eine niedliche Ziege geboren.
Das sollte uns Hoffnung machen.
Ich wünsche euch und euren Haustieren viel Geduld für die Zeit nach der Sintflut,
Oliver