#51 DJ Housearrest legt auf

Lieber Horst,

den Fünfzigsten begehen am 05.05. – wer hat das schon? 
Ich finde auch, wir haben uns ganz gut gehalten. Und nach Deinem gestrigen Brief hing mir dann doch tatsächlich ein kleiner Tropfen im Augenwinkel. Aber vielleicht war das auch der Regen. Ja, genau, so wird es gewesen sein, es hat ja viel geregnet gestern. Gehagelt sogar.

Kaum ist der Mai da, schon kommt das Aprilwetter, oder? Ich kann das ja gut haben. Wenigstens was los am Himmel, wo doch sonst alles so gebremst ist derzeit. Denn bei allem Tröstlichen des Frühlings – dieses andauernde Blau scheint mir angesichts der Sorgen der Welt manchmal auch ein bißchen übertrieben. Ein ehrlicher Regen zwischendurch ist wohltuend.
Und wenn es dann vielleicht doch mal eine Träne ist – die vermutlich auch…

Am allerliebsten würde ich mir ja den Himmel gerade vom Ostseestrand aus begucken. Den bräsigen Kopf ein bißchen durchpusten lassen und aufs Meer starren. 

Ich erinnere mich an meinen letzten Ostseetrip, Anfang letzten Jahres. Das war im Winter, absolut außerhalb jeder Saison. Deshalb hatte ich auch nicht die Bohne damit gerechnet, dass dort ausgerechnet an dem Wochenende eine große Feier angesagt war. 
Die Fressmeile erstreckte sich den gesamten Strand entlang, bis zum Leuchtturm. Aus der ganzen Region waren Menschen angereist, die nun hackedicht zur Schlagermusik johlten, welche aus den diversen Boxen schepperte. Ich erinnere mich unter anderem an den fröhlichen Refrain „Geh ma Bier hol´n, du wirst schon wieder hässlich“.  
Dass ich an der Ostsee war, merkte ich in erster Linie daran, dass auf den Wurstbuden Möwen saßen statt Tauben. 

Einige Schreckstunden und diverse Fluchtgedanken später hatte ich dann beschlossen, mir die Laune nicht vermiesen zu lassen, meinen Erholungsbedarf wegzuatmen und einfach mitzufeiern. 

Am Abend gab es eine große Party im Zelt am Strand, „DJ Housearrest“ legte auf (der hieß wirklich so) und gab alles, um ein bißchen Stimmung zu machen. Es gab die üblichen Fragen an die Menge „Hände hooooch, wer ein echter Rostocker ist!“ und so weiter. Nur bei „Hände hoch, wer nicht aus Deutschland ist!“, traute sich niemand, sich zu melden. Danach spielte er unter viel Beifall „einen Protestsong gegen das Nichtraucherschutzgesetz“. Ein Smokie Medley. Ich wollte mir was zu trinken holen, ich erinnere mich, auf den handgeschriebenen Preislisten standen Bier, Weinschorle, Caipirinha, Sex on the Beach und AFG zur Auswahl. 
AFG kannte ich noch nicht, das klang interessant, ich fragte die Frau am Tresen, was genau das sei. Sie guckte wie ein Schaf. 
„Na, alkoholfreie Getränke“ sagte sie dann, „AFG halt.“ Später merkte ich, dass sie immer guckte wie ein Schaf, aber in diesem Moment fühlte ich mich halt einfach sehr gemeint. Und darüber kann man schon auch mal einen Moment nachdenken. Ich meine, andere müssen womöglich fragen, was sich hinter den Namen der Cocktails verbirgt, das einzige, was ich nicht kenne, sind die alkoholfreien Getränke.

Um es kurz zu machen, ich bestellte daraufhin alles außer AFG, in unterschiedlicher Reihenfolge, trank mir die Musik schön und hatte eine sehr lustige Party. Ich erinnere mich verschwommen, dass ich irgendwann lauthals „Ich will zurück nach Westerland“ mitsang, was für Warnemünde bei näherer Betrachtung doch ein recht seltsames Lied ist.

Am nächsten Morgen, als ich den Frühstücksraum der kleinen Pension betrat, in der ich untergekommen war, hörte ich die eine Angestellte zur anderen bei meinem Anblick raunen: „Oha, da kommt ein doppelter Espresso.“ Das fand ich sehr schön.

Mein Bruder und seine Freundin gehen beim Mexikaner immer Cocktails trinken. Wenn sie da zur Tür reinkommen, ruft der Barmann schon von Weitem: „Zwei Zombies!“
Das muss man ja auch erstmal aushalten können. 

Au weia, jetzt habe ich mich ja heute ganz schön verplaudert.
Aber so ist das halt im Leben. Wenn nix mehr geht, zehrt man von den Erinnerungen. 

Mit einer frischen Ostseebrise aus Südwest grüßt Dich
ganz herzlich

Susanne  

PS: Wäre mein heutiger Gemütszustand ein Obst, es wäre ein Erdbeer-Daiquiri.

#52 Wo spuken sie denn?

Liebe Susanne,

bald spielt die Bundesliga wieder. Hurra! 

Als Werder Bremen-Fan hatte ich ja eigentlich gehofft, man würde die Saison abbrechen, den Abstieg aussetzen und den Meister auslosen. So hätte dann ja auch Hertha mal eine realistische Titelchance gehabt. 

Vielleicht war dieses Handyvideo von Kalou tatsächlich ein letzter verzweifelter Versuch diesen unkonventionellen, aber eben doch einzig möglichen Weg zur Meisterschaft noch offen zu halten. Wenn wieder gespielt wird, gewinnen doch sowieso immer dieselben. Im Sinne der Spannung wäre es besser gewesen mal aufs Fussballspielen zu verzichten. Dann hätte ich den Sport auch wieder interessant gefunden.

Wobei ich kürzlich auch von einem anderen Werder-Fan mit den schönen Worten getröstet wurde. „Mal angenommen, es ist klar, daß Dein Verein absteigt. Und Du kannst aber entscheiden in welcher Saison. Dann ist diese verkackte Corona-Spielzeit doch quasi perfekt zum absteigen. Im Prinzip haben wir da wieder mal totales Glück.“ Ich habe beschlossen es von nun an auch so zu sehen.

Nun also Geisterspiele. Wenn es nach meiner Nichte ginge, wären umgekehrte Geisterspiele noch viel toller. Als sie im Alter von fünf Jahren zum erstenmal mit ihrer Mutter ins Stadion durfte, hat sie hinterher geurteilt: „Alles war total super. Außer dem Fussballspiel.“

Das fand sie zu lang, zu weilig, zu doof und alles in allem eigentlich auch überflüssig. Vielleicht sollte man das nach Corona mal machen. Ins Stadion gehen. Dort zwei Stunden lang nichts gucken. Dann Stadionwurst, zusammen singen und wieder nach Hause. Meiner Nichte würde es gefallen. Mir wahrscheinlich auch.

Falls sich jetzt bei diesen Geisterspielen alle Bundesliga-Profis gegenseitig anstecken, sollte man die Übertragungen deshalb aber auch nicht wieder sofort abbrechen. Wennschon dennschon. Stattdessen könnte man doch dann aus den Bundesliga-Quarantäne-WGs senden. So hätten die Vereine ihre Fernsehgelder und wir Unterhaltung. Und um Gefahren für die Filmteams zu minimieren könnten ja die Spieler sich größtenteils mit den Handys einfach selber filmen. 

Dazu sind sie locker in der Lage und wahrscheinlich wäre es sogar spannender als die normale Bundesliga-Saison. Also ich würde es gucken.

Allseits gutes Programm
wünscht Dir

Horst

#53 Cheese!

Lieber Horst,

Stadionbesuch ohne Fußball finde ich eine geniale Idee. Man könnte sich auf das Wesentliche konzentrieren und auch der Rasen käme mal ein bißchen zur Ruhe. Aber uns fragt ja wieder keiner.
Um den Mangel an Publikum zu kompensieren wurde ja inzwischen sogar eine App entwickelt, mit der die Leute von zu Hause aus Stimmung machen sollen. Es gibt vier Buttons: Jubel, Klatschen, Singen, Pfeifen, die dann entsprechend ins Stadion übertragen werden. Für die Berliner Edition soll es zusätzlich noch die Funktionen BengalosSchiri beschimpfen und Senf an die Jacke vom Nachbarn schmieren geben. Okay, das habe ich mir jetzt ausgedacht, aber der Rest stimmt wirklich. In manchen Stadions soll man sogar einen Sitzplatz und so eine Art Pappfigur mit dem eigenen Gesicht drauf mieten können. Ich glaube, dann wird es wirklich spooky. 

Weil ja heute Tag der Befreiung und deshalb Feiertag ist, gibt es endlich mal wieder andere Gesprächsthemen bei Tisch und im Radio. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mit meinen Söhnen mal einen so spannenden und ausführlichen Austausch über die Familiengeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg hatte.
„Das waren ja heute mal richtig unterflächliche Gespräche“ sagte der eine beim Tischabräumen. Das trifft es ziemlich gut.

Und nicht nur bei meinen Kindern scheint der Feiertag gut anzukommen. Beim Spazierengehen vorhin schnappte ich in einem Gespräch zwischen zwei Teenagern den schönen Satz auf „Warum ist das nicht immer ein Feiertag, Mann? Ich meine, ist doch viel wichtiger, so ein Kriegsende, als dass Jesus vor Ewigkeiten mal irgendwelche Eier versteckt hat.“
Zugegeben, da kriegt der geneigte Protestant ein bißchen Schnappatmung. Aber diesen Gedankengang fand ich schon auch bemerkenswert. 

Auch bemerkenswert ist, dass unser Junior gerade seine Begeisterung für die klassische Fotografie entdeckt. Wir haben einiges an alten Kameras und Objektiven, die er nun durchprobiert, und ab und zu muss ich als Motiv herhalten, wenn er was ausprobieren will. 
Früher haben wir für das Lächeln auf dem Klassenfoto immer Cheese gesagt, in den letzten Jahren hat sich ja mehr und mehr Ameisenscheiße durchgesetzt.
Auch mein Sohn hat beim Fotos machen vorhin versucht, mich zum Lächeln zu bringen: „Okay“ sagte er, „jetzt denk mal an Döner!“
Hat geklappt.

Mit Salat alles  
grüßt Dich

Susanne 

#54 Der Herr Major

Liebe Susanne,

Anlässlich des Tages der Befreiung musste ich an das Demenz-Pflegeheim denken, in dem mein Vater seine letzten Monate verbrachte. Dort gab es nämlich einen Mann, der mich immer mit „der Herr Major“ ansprach. Das fand ich, offen gestanden, fast schmeichelhaft. Immerhin sah er in mir einen Offizier. Das war ja schon was. 

Allerdings hat er mir dann auch stets einen Lagebericht gegeben. Die Lage war desaströs. Für einen Großteil der Patienten in diesem Hospital schloss er einen weiteren Dienst an der Waffe aus. Im Gegenteil. „Vielen von ihnen werden wir leider nicht mehr helfen können.“ Diesen Satz wiederholte er wie einen Refrain und raunte mir dann zu. „Einige von denen wissen gar nicht, wo sie hier sind und haben sich längst in eine völlige Phantasiewelt geflüchtet.“ Er habe daher beschlossen, einfach ihr Spiel mitzuspielen und ihnen gegenüber den Krieg gar nicht mehr zu erwähnen. Aus Barmherzigkeit. 

Das wäre eigentlich ziemlich lustig gewesen, hätte ich nicht von einer der Pflegerinnen erfahren, daß dieser Mann ungefähr jede zweite Nacht durchschrie. „Sie werden eben wieder zu Kindern,“ meinte sie. „Sie schlafen einfach nicht mehr durch.“

Ein wirklicher Tag der Befreiung war der achte Mai wahrscheinlich nur für die nachfolgenden Generationen. Die, die diese Barbarei erlebt und sogar überlebt haben, blieben eben doch ihr Leben lang Gefangene dieses Krieges. Früher oder später zumindest. Täter wie Opfer. 

Klar fühlt es sich vor diesem Hintergrund unwirklich an, heute von den Corona-Einschränkungen genervt zu sein. Insofern hätte es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt für diesen Feiertag geben können.

Ich habe in diesem Demenz-Pflegeheim seinerzeit übrigens immer versucht, mich auf die Erinnerungsrealitäten der Patienten einzulassen. Auch wenn diese meist nicht leicht zu verstehen und praktisch durch die Bank furchtbar waren. Ich versuchte zu ergründen, was in den Alten vorging. Erfolglos. Als wenn sie das selbst gewusst hätten.

Umso mehr bewunderte ich eine Schwester, die genau das Gegenteil tat. Sie sagte den Patienten einfach, was in ihnen vorging. Und die glaubten ihr das. Sie wusste, was ihre Leute sich wünschten, obwohl die selbst keine Ahnung davon hatten. Sie ging auf die Alten zu und sagte ihnen: 

„Sie haben Hunger!“ „Sie haben Durst!“ „Sie sind müde!“ „Sie möchten einen Spaziergang machen!“ „Sie hören gerne diese Musik!“ 

Anfangs fand ich das schroff und übergriffig. Bis ich merkte, daß sie immer recht hatte. Sie war wie ein Amazon-Algorithmus. Nur ohne Amazon und ohne Algorithmus. Sie wusste einfach immer von allein, was die Leute sich wünschten und irrte sich nie. Alle mochten sie. Ich bewunderte sie sehr und hätte mir gewünscht, auch in den Genuss ihrer Fähigkeiten zu kommen. 

„Sie wollen ihr zweites Staatsexamen machen!“ Hätte sie mir das gesagt, hätte ich garantiert mein Studium vernünftig abgeschlossen. Da bin ich sicher. Und ich wäre damit sehr zufrieden gewesen. Davon bin ich auch überzeugt. 

Ob es allerdings gut für mich und mein weiteres Leben gewesen wäre, wenn ich mein Studium abgeschlossen hätte? Da habe ich erhebliche Zweifel. 

Und das lässt mich dann doch wieder nachdenklich zurück.

Mit kryptischen Grüßen 

Horst

#55 Was dich nicht glücklich macht

Lieber Horst,

ein guter Freund hat mir Anfang des Jahres eine Postkarte geschickt mit dem Spruch darauf: 
„Was dich nicht glücklich macht, kann weg!“ 
Ich habe sie an den Kühlschrank gebappt, weil mir der Ansatz gut gefiel, und heute gerade wieder drüber nachgedacht.

Corona könnte dann jetzt weg, Horst. 

Die aktuellen Lockerungen stimmen mich zwar verhalten fröhlich – aber verhalten überwiegt. Die Skepsis bleibt unsere stete Begleiterin, der Übermut hat Pause.
Jetzt patrouillieren auch hier am Kanalweg Polizeiautos, das hattest Du auch schon mal beobachtet, wie dann die Massen immer ganz eng zusammenrücken, um sie durchzulassen. Und beim Einkaufen neulich hat einer seine Maske kurz abgenommen, weil er niesen musste. Danach hat er sie wieder aufgesetzt. 
Bei solchen Szenen gehen mir immer so ungeduldige Comiclaute durch den Kopf (Gnggnggng!) und ich würde mir gerne mit der Hand vor die Stirn schlagen, aber ins Gesicht fassen darf man sich ja gerade nicht. 
Möglicherweise bin ich selbst ja auch keine Heilige, was Hygienevorschriften anbelangt – aber immerhin konsequent genug, um mir hier jetzt nicht in aller Öffentlichkeit an die eigene Nase zu fassen.
Ha!

Momentan reden ja gerade alle über diese vermaledeite 50. Versteh mich nicht falsch, ich habe das mit den Neuinfektionen pro Einwohner von der wissenschaftlichen Dimension her schon genau verstanden. Und dennoch zuckt etwas in mir jedesmal ganz unwissenschaftlich zusammen, wenn von 50 als Obergrenze gesprochen wird.
Ich gehe immerhin auf die Fünfzig zu, wie man es gemeinhin ausdrückt. Wobei ich diese Formulierung bei näherer Betrachtung auch nicht wirklich stimmig finde. Ich gehe nämlich überhaupt nicht auf die Fünfzig zu, die blöde Kuh kommt mir entgegen! Aber das ist ein anderes Thema.

Älterwerden. Älterwerden kann auch weg. 

Bei Deiner wirklich sehr berührenden Geschichte vom Herrn Major ist mir gleich meine Tante Gisela eingefallen. Tante Gisela hatte auch Schwierigkeiten mit dem Älterwerden und irgendwann offenbar beschlossen, bestimmte Veränderungen an sich einfach nicht mehr wahrzunehmen. Noch in ihren späten Achtzigern, als sie schon sehr lange komplett schneeweißes Haar hatte, war sie der Meinung, ihr „Blondton“ sei „eine Nuance heller geworden“. Damit kokettierte sie immer ein bißchen. „Andere müssen ja färben in meinem Alter, aber ich…“ sagte sie dann stolz. Ich glaube, auch das ist Resilienz. Nie hätten wir ihr widersprochen.

Meine Tante Gisela war die Schwester meiner Mutter, an die ich heute natürlich auch schon gedacht habe: Es ist Muttertag! 
Oh, was hat sie nicht alles mitgemacht… Selbstgemalte Bilder, getöpferte Aschenbecher (sie rauchte gar nicht), Gutscheine für Hilfe im Haushalt, die wir nie einlösten… Die Krönung war sicher, dass wir ihr in einem Jahr mal ein Waffeleisen schenkten. Wir fanden das eine tolle Idee, wir aßen sehr gerne Waffeln.

Auch aufgrund dieser etwas deprimierenden Erinnerungen wird der Muttertag in meiner Familie heute nicht wirklich begangen. Bei uns ist es ohnehin eher … – sagen wir so, als der Mann mal Basilikum eingekauft hatte, fragte der Kleine „Oh, hast du Mama wieder Blumen mitgebracht?“ 
Aber die Rose auf dem Balkon ist über Nacht von ganz allein aufgeblüht, der Mann hat Kaffee gemacht , die Kinder haben ganz entspannt den Frühstückstisch gedeckt und etwas in der Art von „Herzlichen Glückwunsch zu Deinen wohlgeratenen Kindern!“ gesagt. Das war wirklich sehr schön.
Zum Dank gehe ich vielleicht glatt mal gucken, ob ich das alte Waffeleisen finde. 

In diesem Sinne heute auch mal
glückliche Grüße von

Susanne

#56 Ich bin nur wegen den Blumen hier

Liebe Susanne,

auch wenn der Muttertag gestern war, möchte ich Dir noch von einer erstaunlichen Begebenheit berichten.

Ein VW Tiguan hält vor dem Blumenladen Mehringdamm/Ecke Bergmannstrasse, lässt die Scheibe runter und brüllt vom Beifahrersitz die ziemlich lange Warteschlange an:

 „Ihr wisst aber schon, daß dieser Scheiß-Muttertag, den ihr da feiert, von den Nazis kommt, oder?“

Alle sind perplex. Außer einer älteren Dame, die nach kurzem Überlegen mit bemerkenswert tragender Stimme antwortet:

„Abgesehen davon, daß der Muttertag in den USA erfunden wurde, werde ich in dem Moment aufhören ihn zu begehen, wo Du aufhörst, die Autobahnen zu benutzen.“

Nachdem sich der bedröppelte Tiguan mit runtergelassenem Fenster vom Bordstein gemacht hatte, hat sie uns anvertraut: 

„Eigentlich habe ich selbst ja auch gar nichts mit dem Muttertag am Hut. Ich bin nur wegen den Blumen hier. Und außerdem habe ich manchmal einfach Lust, böse zu den Blöden zu sein.“

Böse zu den Blöden sein. Welch schöne Formulierung. Wenngleich einen das böse zu den Blöden sein, ab und an auch selbst zum Blöden machen kann.

Als ich das letzte Mal böse zu einem Blöden war, habe ich mich zumindest auch nicht mit Ruhm bekleckert. Es passierte im Zug. Nach einem Sitzplatz-Disput. Ich war im Recht, aber er hatte den Platz, weil der Klügere nachgibt. 

Woran man sieht, was man davon hat, der Klügere zu sein. Nämlich ein schlechtes Gefühl und keinen Tischplatz. Ihm hingegen ging es sichtbar sehr gut. 

Als wollte er mich ärgern, hat er den Tisch dann gar nicht benutzt und nur gelesen. „Das zweite Zeichen“, ein Krimi von Ian Rankin. Also habe ich im Affekt den Roman gegoogelt und ihm kurz vor meinem Aussteigen den Mörder verraten. Als er mich nur verwundert angestarrt hat, habe ich ihm auch noch die Herleitung der Auflösung erläutert und geschlossen mit den Worten: „Schade, ist eigentlich ein ziemlich gutes und spannendes Buch, aber jetzt, wo sie alles wissen, wird es ihnen langweilig vorkommen.“

Woraufhin er tatsächlich ankündigte, mir gleich eins in die Fresse zu geben. Weshalb ich ihn aufklärte, daß ich mir den Mörder und die Herleitung nur ausgedacht hatte, um ihn zu ärgern. Denn selbst wenn man absichtlich böse ist, gibt es Grenzen.

 Eigentlich zumindest. Leider war es nämlich auch gelogen, daß ich mir den Mörder und die Herleitung ausgedacht hatte. Da ich es noch perfider fand, wenn er nun weiterlesen und erst nach und nach feststellen würde, daß er alles schon wusste. Von mir. Und mir jetzt keins mehr in die Fresse geben konnte.

Womit ich zusammenfassend sagen kann, daß ich mich hier wohl ziemlich blöde verhalten habe.

Blöde, aber reuevolle Grüße

Horst

#57 Ich bin nicht wütend

Lieber Horst,

der Mann hat aus Schweden Lupinen mitgebracht. Jetzt wo der Flieder langsam verblüht ist, sind sie meine tägliche Freude, besonders wenn die Regentropfen sich darin fangen, sieht das spektakulär aus. 
Heute früh als ich gerade ein Foto davon machte, betrachtete mein Sohn die Blätter. „Hm. Sieht ein bißchen aus wie Hanf für Arme“ sagte er. 
Ich fürchte, er hat recht. Wie so oft.
Er sagt ja auch Sätze wie „Karl Lauterbach klingt ein bißchen wie Max Raabe in deprimiert“. Denk da mal kurz drüber nach… Ist was dran, oder? Das kriegt man nicht so leicht wieder aus dem Kopf, Horst, aber ich verspreche Dir, es steigert den Unterhaltungswert der Tagesschau enorm.

Auch mein anderer Sohn hatte schon früh einen sehr eigenen Blick für die Dinge.
Ich glaube, er war vier als wir ihm den Helmut Newton Fotoband wegnahmen und er sagte „Ach schade, ich wollte doch nur mal wieder mein Lieblingsfoto angucken.“
Im Museum hingegen blieb er schon mal ein paar Minuten gebannt vor dem Feuerlöscher stehen, im Zoo freute er sich an den Spatzen während hinter ihm die Giraffen flanierten. Und während andere Kinder Benjamin Blümchen hörten, lief bei uns Malediva rauf und runter. 

Kennst Du Malediva? Ein begnadetes Kabarettduo, dereinst, von dem bei uns zu Hause noch heute öfter die Rede ist, weil bestimmte Zitate von den CDs über die Jahre zu geflügelten Worten geworden sind. Rund um Weihnachten zum Beispiel singen wir gerne mal Lieder wie  Die dicken Mädchen sind nie die Maria, was aber vor allem geblieben ist, und zwar ganzjährig, das ist der Begriff der Muttihölle.

Die Muttihölle, so erzählen es Malediva, ist jenes emotionale Desaster, in das alle auch die noch so Erwachsenen geraten, wenn sie ihre Eltern enttäuschen.

Es ist der Moment, wo die Mutter sagt „Ich bin nicht wütend, ich bin nur enttäuscht…“ 
Ich glaube, fast alle kennen diese Muttihölle. Alle außer meinen Kindern. Sie haben das dank der Malediva-CD schon als Kleinkinder durchschaut. 
Wenn es denn doch mal vorkommt, dass ich auf irgendwas ein wenig verschnupft reagiere, aber meinen Ärger nicht offen äußere, wenn ich also so Dinge sage wie „Nee nee, lass, ist schon ok…“ – dann gucken sie sich nur an und sagen im Chor „Ich bin nicht wütend, ich bin nur enttäuscht!“  
Meist lachen wir dann alle einmal herzlich und können das Thema danach etwas entspannter weiterbereden.  Frei nach Professor Lupin: Ridiculus!
Manchmal funktioniert das auch im Alltag.

Warum ich gerade über all das nachdenke? 
Meine Nachrichten-App ploppte gestern auf und vermeldete: „Merkel enttäuscht von den Deutschen.“
Muttihölle, schoss es mir da durch den Kopf. 
Aber nur ganz kurz. 

Liebe Grüße,

Susanne & die Eisheiligen

PS: Cooler Bandname, eigentlich?  

#58 Ich war der Lastenausgleich

Liebe Susanne,

wie schön, daß Du Dich an die Muttihölle von Malediva erinnerst. Dadurch schieben sich auch in mein Hirn gleich ganze Schubkarrenladungen voll bester Nostalgie. Ein schöner Haufen, in dem ich jetzt einige Zeit lang wühlen konnte.

Irgendwann im Jahre neunzehnhundertweißnichmehr war ich bei Malediva in ihrer LateNight-Show in der Bar jeder Vernunft zu Gast. Lo und Tetta haben damals jeden Künstler mit einem Gedicht angekündigt. Meines endete mit den Zeilen:

„…doch will der Horst nen Abend, nen bunten,
geht er zu den singenden Tunten.“

Dieser Reim hat sich tief in mein Unterbewusstsein gefressen. Sobald heute jemand nur von einem bunten Abend spricht, kriege ich eine halbe Stunde lang nichts mehr mit. Denn in meinem Kopf singen und tanzen nun die bunten Tunten meiner Vergangenheit.

Dabei war ich bei diesen Abenden ein völliger Exot. Meine Geschichten haben das Publikum dort eher ratlos bis verstört zurückgelassen. Dennoch waren alle sehr, sehr freundlich zu mir. Ein bisschen in die Richtung von: „Naja, sowas muss es ja auch geben. Warum nicht auch mal jemanden, der in Alltagsklamotten, mit einer Alltagsstimme, Alltagsgeschichten vorliest, auf die Bühne lassen. Die Welt ist bunt.“

Ich war so eine Art personifizierter, künstlerischer Lastenausgleich. 

Sowas soll ja jetzt eventuell wieder kommen. Ein Lastenausgleich, wie nach dem zweiten Weltkrieg, um die Kosten der Krise gerechter auf die Gesamtbevölkerung zu verteilen.

Damals war ich die Gesamtbevölkerung, auf die die Bühnenzeit gerechter verteilt wurde. 

Wobei diese Metapher weder gut noch angemessen ist, aber wenn das jetzt auch noch eine Kategorie ist, kann man ja irgendwann gar nichts mehr schreiben.

Meine Tochter war vor einigen Jahren beim Frühstück mal sehr genervt von meinem damaligen Lustigkeitsanfall. Irgendwann hat sie daher gefragt, was eigentlich mein Rekord im ohne Unterbrechung nicht witzig sein wäre? 

Damals wusste ich keine Antwort. Wenn ich heute so drüber nachdenke, dürfte es wohl einer dieser Auftritte aus den Neunzigern gewesen sein. 

Was würde ich darum geben, wenn ich heute Abend in einer tuntenlastigen Mixed-Show mit meinen Texten nochmal so richtig abschmieren könnte. Es war eine großartige Zeit.

Das muss man dem aktuellen Verbot schon lassen. Mit jedem Tag, wo mir weitere Auftritte untersagt sind, werden meine Erinnerungen noch leuchtender und schöner. Nicht schlecht, Herr Specht. Womöglich befinde ich mich ja gerade doch in einer win-win-Situation.

Bunte Grüße

Horst

#59 …und es hat Zoom gemacht

Lieber Horst,

14. Mai – der Namenstag der Heiligen Corona. 
Was es nicht alles gibt.
Man erbittet von ihr traditionell „Beistand und Schutz bei Hagel und Viehseuchen“, habe ich gerade gelesen, das klingt ja erstmal nicht verkehrt, da kann man seinen Aluhut ja mal in den Ring werfen.

Nach Deinem gestrigen Brief habe ich noch den ganzen Tag Malediva vor mich hingeträllert, hach, das war schön. Also für mich war das schön, für meine Familie, naja.  Und dieser wirklich zauberhafte Reim, an den Du Dich noch erinnern konntest, hat mir dann wiederum ins Gedächtnis gerufen, wie der Mann und ich vor ein paar Wochen mal auf dem Balkon gesessen und gedichtet haben. Ich weiß auch nicht, was da los war. Jedenfalls – an leisen Abenden mit leeren Straßen, wie wir sie nun öfter haben, kann man manchmal in der Ferne die S-Bahn hören. Eines Nachts hupte diese aus unerfindlichen Gründen, da haben wir uns so unsere Gedanken gemacht. Heraus kam dabei (Achtung, räusper)

Am Bahndamm sitzen Rassekröten
Und hören nicht die krassen Tröten 
Weshalb sie jetzt die Trasse röten.

Großes Kino, oder? Ich gestehe, es war Gin im Spiel. 

Doch zu etwas völlig anderem.
Mein Ohrwurm des heutigen Tages ist zur Abwechslung mal von Klaus Lage:  „…und es hat Zoom gemacht!“
Zoom
, Horst.
Diese unumschiffbare Geißel der Homeoffice-Debütanten.
Alle zoomen.
Heute Abend habe auch ich wieder eine Zoom-Konferenz, hurra.

Von Vorteil ist immerhin, dass der Bildausschnitt der Videos in der Regel nicht viel mehr zeigt als Kopf und Oberkörper des Teilnehmenden. Das ist mir in Anbetracht der bereits besungenen Folgen des Bewegungsmangels sehr angenehm und ermöglicht businessmäßiges Auftreten trotz Homealone-Hose.  
(Als ich mich vor einigen Jahren mal für ein Vorstellungsgespräch aufgebrezelt hatte und kritisch in den Spiegel schaute, sagte mein Sohn: „Mach Dir keine Sorgen, Mum, Du siehst voll aus wie ne Professionelle!“ … Aber das ist eine andere Geschichte.)

Immer wieder interessant ist ja auch der Einblick, den man beim Zoomen in die Alltagsumgebung des einen und der anderen bekommt. Dieses kleine bißchen Hintergrund, das lenkt mich immer total ab. Welche Bücher hat wer im Bücherregal, ist das ein Plattenspieler dort hinten, was steht da für ein Spruch auf dem Kaffeebecher?
Fabienne sagt, sie legt jetzt immer wie zufällig eine Yogamatte in den Hintergrund, wenn sie zoomt. „Dann denken die Leute: Was ne coole Socke.  Wer ne Yogamatte hat, denken die dann – der hat auch ne Obstschale!“
Ich glaube, von Fabienne kann ich noch eine Menge lernen. 

Ach ja, und André hatte neulich eine riesige Blumenvase direkt neben sich auf dem Tisch stehen, als wir privat miteinander zoomten, das fand ich etwas seltsam. Das sei noch das Überbleibsel aus der letzten Video-Konferenz mit seiner Chefin, sagte er etwas zerknirscht. Der Vorabend sei ihm etwas entglitten, und er war um 8 Uhr morgens noch im Niemandsland zwischen noch hackedicht und schon schlimm verkatert, konnte diesen sehr wichtigen Gesprächstermin aber auf gar keinen Fall absagen. 
Die Blumenvase war seine Absicherung für den Fall, dass er sich spontan hätte übergeben müssen. 

Womit wieder bewiesen wäre, dass auch hinter den profanen Dingen zuweilen die erstaunlichsten Geschichten lauern. 

Und Du so, Horst? Welche Geschichten lauern in Deinem Hintergrund? 

Neugierige Grüße von

Susanne

#60 Netflixhose oder Regenkleidung für drinnen

Liebe Susanne,

Ich sitze bei Videokonferenzen tatsächlich mittlerweile immer vor unserem Bild. Also wir besitzen genau ein richtiges Bild. Nicht wirklich teuer, aber man erkennt doch sofort, daß es von einer richtigen Malerin richtig gemalt wurde. Da wird man dann quasi selber zu Kunst.

Das musste ich aber auch erst lernen. Mein WDR-Redakteur macht sich heute noch darüber lustig, daß ich um 16.00 Uhr im Pyjama zum Zoomen erschienen bin. Ich habe ihm nicht verraten, daß es gar nicht mein Schlafanzug war. Den hatte ich nämlich sogar um 15.55 Uhr wirklich noch an gehabt. Bin dann aber schnell zum Angeben in meine Trainingssachen geschlüpft. 

Leider sieht mein Fitnessdress für WDR-Redakteure wohl wie ein Schlafanzug aus. 

Nun ja, tatsächlich habe ich in ihm ja auch häufiger geschlafen als trainiert. Vielleicht hat sich das arme Kleidungsstück einfach an sein Aufgabenfeld angepasst.

So wie meine Handwerkerhose, die mittlerweile auch eher wie eine Netflixhose aussieht. Ich habe überhaupt viel Funktionskleidung.

 Müslihemden, auf denen man die Joghurtflecken nicht so sieht. 

Müllrunterbringschuhe, die noch nicht kaputt genug zum wegschmeißen sind, aber doch schon zu gebrechlich, als daß man sich mit ihnen noch weiter, als bis in den Innenhof traut. 

Regenkleidung, die ich bei Regen trage, aber nur drinnen, weil sie empfindlich gegen Feuchtigkeit ist.

Außerdem natürlich jede Menge Schreibklamotten. Die ich extra zum Schreiben anziehe. Eigentlich nur, um die Zeit, in der ich so dasitze, vor mich hinstarre und vermutlich über etwas nachdenke, was ich sofort wieder vergesse, mit Sinn zu füllen.

Wenn ich meine Schreibsachen anhabe, ist es Arbeit. In normaler Kleidung wäre es ja nur ein vor mich hindösen. Das könnte ich mir schon rein zeitlich gar nichts leisten. 

Also ziehe ich mir meine Schreibsachen an und schon ist alles was ich mache quasi Dienst. 

Manchmal schlafe ich sogar in meinen Schreibsachen. Dann habe ich gefühlt die ganze Nacht durchgearbeitet. Danach bin ich dann aber auch ganz schön kaputt. Aber das ist ja ohnehin häufig. Also das ich direkt nach dem Aufstehen wahnsinnig müde bin. Ich nehme an, daß mich schlafen oft wahnsinnig anstrengt. Sonst wäre ich ja beim Aufstehn nicht so kaputt.

Gibt es eigentlich schon ein Start-Up, das auswechselbare Hintergründe für Videokonferenzen vertreibt?

 Also bedruckte Leinwände, die man hinter sich aufhängt. So daß man immer das passende Ambiente mit nur wenigen Handgriffen herstellen kann? 

Wollen wir nicht sowas gründen? 

Eine Firma für schnell austauschbare Videokonferenzhintergründe? 

Oder ein Fachgeschäft für Arbeitskleidung für Alleine-Zuhause-Arbeiter und innen.

Wie reich man wahrscheinlich werden könnte, wenn man Lust hätte zu machen, was einem so einfällt. Gut, daß wir auch so zurechtkommen.

Zufriedene Grüße

Horst