#57 Ich bin nicht wütend

Lieber Horst,

der Mann hat aus Schweden Lupinen mitgebracht. Jetzt wo der Flieder langsam verblüht ist, sind sie meine tägliche Freude, besonders wenn die Regentropfen sich darin fangen, sieht das spektakulär aus. 
Heute früh als ich gerade ein Foto davon machte, betrachtete mein Sohn die Blätter. „Hm. Sieht ein bißchen aus wie Hanf für Arme“ sagte er. 
Ich fürchte, er hat recht. Wie so oft.
Er sagt ja auch Sätze wie „Karl Lauterbach klingt ein bißchen wie Max Raabe in deprimiert“. Denk da mal kurz drüber nach… Ist was dran, oder? Das kriegt man nicht so leicht wieder aus dem Kopf, Horst, aber ich verspreche Dir, es steigert den Unterhaltungswert der Tagesschau enorm.

Auch mein anderer Sohn hatte schon früh einen sehr eigenen Blick für die Dinge.
Ich glaube, er war vier als wir ihm den Helmut Newton Fotoband wegnahmen und er sagte „Ach schade, ich wollte doch nur mal wieder mein Lieblingsfoto angucken.“
Im Museum hingegen blieb er schon mal ein paar Minuten gebannt vor dem Feuerlöscher stehen, im Zoo freute er sich an den Spatzen während hinter ihm die Giraffen flanierten. Und während andere Kinder Benjamin Blümchen hörten, lief bei uns Malediva rauf und runter. 

Kennst Du Malediva? Ein begnadetes Kabarettduo, dereinst, von dem bei uns zu Hause noch heute öfter die Rede ist, weil bestimmte Zitate von den CDs über die Jahre zu geflügelten Worten geworden sind. Rund um Weihnachten zum Beispiel singen wir gerne mal Lieder wie  Die dicken Mädchen sind nie die Maria, was aber vor allem geblieben ist, und zwar ganzjährig, das ist der Begriff der Muttihölle.

Die Muttihölle, so erzählen es Malediva, ist jenes emotionale Desaster, in das alle auch die noch so Erwachsenen geraten, wenn sie ihre Eltern enttäuschen.

Es ist der Moment, wo die Mutter sagt „Ich bin nicht wütend, ich bin nur enttäuscht…“ 
Ich glaube, fast alle kennen diese Muttihölle. Alle außer meinen Kindern. Sie haben das dank der Malediva-CD schon als Kleinkinder durchschaut. 
Wenn es denn doch mal vorkommt, dass ich auf irgendwas ein wenig verschnupft reagiere, aber meinen Ärger nicht offen äußere, wenn ich also so Dinge sage wie „Nee nee, lass, ist schon ok…“ – dann gucken sie sich nur an und sagen im Chor „Ich bin nicht wütend, ich bin nur enttäuscht!“  
Meist lachen wir dann alle einmal herzlich und können das Thema danach etwas entspannter weiterbereden.  Frei nach Professor Lupin: Ridiculus!
Manchmal funktioniert das auch im Alltag.

Warum ich gerade über all das nachdenke? 
Meine Nachrichten-App ploppte gestern auf und vermeldete: „Merkel enttäuscht von den Deutschen.“
Muttihölle, schoss es mir da durch den Kopf. 
Aber nur ganz kurz. 

Liebe Grüße,

Susanne & die Eisheiligen

PS: Cooler Bandname, eigentlich?  

Eine Antwort auf „#57 Ich bin nicht wütend“

  1. Nicht wütend zu sein, sondern einfach nur enttäuscht in einer Gesellschaft, wo die „Wutbürger“ und Verschwörungstheoretiker trotz oder wegen der „Corona-Krise“ wieder Oberwasser bekommen, ist ja fast schon sympathisch. Und auch unsere Kanzlerin weiß doch aus Ihrer jahrzehntelangen Regierungserfahrung: „Nichts ist so überraschend wie das Ausbleiben einer Enttäuschung“, um den Gebrauchsphilosophen Klaus Klages einmal zu zitieren.

    Um nun weder wütend noch enttäuscht durchs Leben zu rennen sollten wir es wirklich machen wie die Jugend: Lupinen aus Schweden sind „Hanf für Arme“, Probleme sind einfach nur Herausforderungen und Dumpfbacken und sture Menschen sind einfach nur meinungsstabil. Man muss die Dinge einfach nur richtig benennen und dann kommt man gut durchs Leben. Also auch bei Schriftwechsel 57 „Ich bin nicht enttäuscht, sondern begeistert über die täglichen verbalen Genüsse“.
    Grüße aus dem Land, wo „Hanf für Arme“ wächst.

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