#67 Von Einhörnern und Amseln

Lieber Horst,

Was den guten Willen und die linken Hände beim Werken angeht – da haben wir was gemeinsam.
Als ich das letzte Mal ein Ikea-Schrankteil zusammengebaut habe…
Ich sag mal so, es kam aus der Serie Lekman, und das Wort hab ich beim Aufbauen dann auch immer mal wieder laut gerufen.

Ach ja, und noch etwas fiel mir wieder ein.
Ein kurzer Dialog, der auf meiner letzten Dienstreise stattfand. In einer kleinen Pension im niedersächsischen Nirgendwo, die damit wirbt, dass sie „Monteurzimmer / Frühstück ab 6 Uhr“ anbietet,  kam ich mit einem Vertreter am Nebentisch ins Gespräch, der sich mir mit den grandiosen Worten vorstellte: „Ich mache in Sanitäranlagen!“
Ich fragte mich sofort: Tun wir das nicht alle?, sagte es dann aber doch nicht laut.

Vom Vatertag habe ich in diesem Jahr gar nichts mitbekommen, hier war es total still in den Straßen, kein bierseliger Bollerwagen weit und breit. Ob es am Aufruf der Berliner Polizei lag? Die hatte morgens auf Twitter zur Einhaltung der Anstandsregeln gemahnt:
„Liebe Herren, bitte seien Sie bei Ihren Ausflügen wie das Einhorn – freundlich und flauschig. Man sieht Einhörner selten, sie treten wohl nicht in größeren Gruppen auf.“
Deeskalation zum Liebhaben. So hab ich´s gern.

Ansonsten bin ich heute ein wenig neben der Spur, ich habe einfach viel zu wenig geschlafen.
Eine Freundin hatte neulich erzählt, sie habe gehört, dass die Vögel in der Stadt derzeit viel leiser seien, seit sie nicht mehr gegen so viel Flug- und Straßenlärm ansingen müssen. Ich kann das nicht bestätigen. Was ich sagen kann: Morgens um vier ist bei mir die Spanne zwischen den Gedanken „Oh wie schön, da singt eine Amsel“ und „Kann man Amseln eigentlich grillen?“ sehr gering.  Gott sei Dank wurde dann um  sechs das Altglas abgeholt, das hat mich sehr wirkungsvoll von der Amsel abgelenkt.

An Tagen, die so anfangen, sollte man sich nichts Wichtiges vornehmen und ein bißchen Nachsicht mit sich selbst haben. Zwischendurch sollte man sich immer mal wieder selber in den Arm nehmen.
Meine Clematis macht das genauso, guck!

Ein bißchen verpeilt und überaus herzlich grüßt Dich

Susanne

#68 In der Sickergrube der öffentlichen Debatte

Liebe Susanne,

tatsächlich hatte auch ich heute einen windschiefen Tag. Dies merke ich daran, wenn ich plötzlich im Netz tagespolitische Debattenbeiträge lese. Alle Psychologen sind sich ja einig, daß das das Gemüt nicht sonniger macht.

Dennoch mache ich das manchmal, denn wenn ich nur Dinge täte, die mir gut tun, hätte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber den Menschen, die nicht nur Dinge tun können, die ihnen gut tun. 

Wenn die das allerdings genau so machen würden, wüsste man wenigstens mal, warum eigentlich kaum jemand die Dinge tut, die ihm gut tun.

Doch ich schweife ab. Ich habe also in einem konservativen Leitmedium einen politischen Kommentar gelesen. Trotz besseren Wissens. Es ging um die die Frage, ob der Staat seine Konjunkturankurbelungsgelder wirklich einsetzen sollte, um Menschen, die sich einen neuen S-Klasse-Mercedes kaufen, dabei finanziell unter die Arme zu greifen.

Der Autor meinte, kurz zusammengefasst, ja, das klinge erstmal befremdlich. Aber es sei trotzdem richtig, denn wenn der Mercedes-S-Klasse-Fahrer sich einen neuen Mercedes-S-Klasse kaufe, helfe das in erster Linie nicht ihm (er hatte ja wahrscheinlich auch vorher schon ein gutes Auto), sondern uns allen. Nicht zuletzt auch aufgrund des Sickereffektes.

Abgesehen davon, daß ich nicht weiß, wielange wieviel wovon versickern muss, damit von seinem Mercedes S-Klasse irgendwann bei mir womöglich ein VW Polo oder auch (was mir lieber wäre) ein altes klappriges Damenrad ankommt, ist der „Sickereffekt“ meines Erachtens wohl das halbseidenste aller politischen Dampfplaudererargumente. Also quasi der Friedrich Merz der Debattenbeiträge.

Letztlich vertraut der Sickereffekt immer darauf, daß man Millionären eine neue Million gibt, zum Beispiel durch Steuererleichterungen, damit die dann ihre alte Million, die sie ja denn nicht mehr brauchen, an weniger Wohlhabende weitergeben. Eigentlich eine total durchdachte und logische Überlegung. Warum es trotzdem nie funktioniert, weiß keiner. Wahrscheinlich weil die Flüchtlinge soviel kosten.

Im selben Medium gab es noch einen weiteren Kommentar, der darauf hinwies, daß wir der harten Wahrheit ins Gesicht sehen müssen. Denn am Ende werden wir nicht allen helfen können. 

Das denke ich auch. Zum Beispiel diesen beiden Kommentatoren werde ich sicher nicht mehr helfen können.

Aber das war ja nur ein vertaner Tag. Morgen werde ich wieder ganz, ganz viel nicht lesen, sondern ein Buch. Da freue ich mich schon drauf.

Fröhliche Grüße

Horst

#69 Na, was machst du gerade?

Lieber Horst,

Ach ja, der Sickereffekt.
„Es darf kein Freibier für alle geben“ ist ja mein persönlicher Satz des Tages, das hat der Chef der Wirtschaftsweisen vorhin gesagt. Das „Freibier“ – in dem Fall Familienboni und Konsumgutscheine für die breite Bevölkerung – würde vermutlich auch nicht von unten nach oben sickern.
Ich verstehe seinen Punkt  und meine Bereitschaft, auf das Freibier zu verzichten, ist durchaus gegeben – wenn wir im Gegenzug denn bitte auch den Champagnerfluss am anderen Ende der finanzwirtschaftlichen Nahrungskette ein wenig drosseln könnten, bitte. Aber dann würden die Wirtschaftsweisen am Ende womöglich zu Wirtschaftswaisen? Wer weiß.
Und bevor ich mich da jetzt reinsteigere, nutze ich die Gelegenheit doch lieber anderweitig.
Achtung, es folgt eine virtuelle Umarmung.

Ich will an dieser Stelle nämlich einfach mal Danke sagen.
Uns erreichen in all diesem Krisenfrust immer wieder so freundliche, aufmunternde Worte und auch in unserem Spendenhut hat sich inzwischen mancher Taler angefunden.
Beides ist großartig.
Ihr seid großartig!

So, das musste mal gesagt werden…

Dass Du beim Surfen im Netz bei tagespolitischen Debatten landest, Horst, finde ich beachtlich. Bei mir endet sowas meistens im völlig sinnfreien Raum.
Seit es das Internet gibt, ist Prokrastinieren ja so viel leichter geworden. Und wenn ich was kann, dann ist es prokrastinieren. Wenn ich im nächsten Bewerbungsgespräch gefragt werde: „Frau Riedel, wo sehen sie denn ihre persönlichen Stärken?“ kann ich mit großer Überzeugung sagen: Im Prokrastinieren macht mir keiner was vor.

Wenn man jemanden anruft, ist „Na? Was machst Du gerade?“ sicher eine der gängigsten Einstiegsfragen. Nicht besonders originell, aber nun, auch ich stelle sie häufig. Die schönsten Antworten, die ich darauf in letzter Zeit bekommen habe, waren
„Ich lerne Georgisch“
„Ich nähe den Insektenschutz meines Fahrradhelms“
„Ich baue ein Hochbeet“ und, mein Favorit:
„Ich sauge den Keller“.

Merkst Du was? Die Leute tun alle so sinnvolle Dinge, Horst.
Und es macht mir ein bißchen Angst, dass andere Leute offenbar Keller haben, die man saugen kann. Bei uns ginge das gar nicht. Den Boden unseres Kellers habe ich das letzte mal bei unserm Einzug gesehen, vor etwa 18 Jahren. Und auch da nur ganz kurz.

Jedenfalls bin ich sehr froh, dass gestern niemand angerufen und gefragt hat: Was machst Du gerade.
Die Antwort hätte nämlich  gelautet: Ich sitze seit Stunden am Computer und denke mir unsinnige Bandnamen aus.
Kollege Jakob hatte nämlich auf Facebook dazu aufgerufen, Bandnamen zu ruinieren, indem man nur einen einzigen Buchstaben austauscht. Also Rolling Scones zum Beispiel.

Was ich immerhin beisteuern konnte waren (Trommelwirbel):

  • die Pot Shop Boys
  • Afrosmith und
  • Rasenstolz.

    Womit wir ja fast schon wieder beim Fußball wären.

    Mit dieser Steilvorlage lasse ich Dich jetzt mal alleine und sende Dir viele helle Grüße in den verhangenen Tag,

Susanne

#70 Die Familienplanung der Anderen

Liebe Susanne,

am Wochenende habe ich zufällig einen ehemaligen Fast-Mitschüler getroffen. 

Soll heissen, wir waren zwar nicht im selben Jahrgang, aber haben doch beide an der Graf-Friedrich-Schule in Diepholz unser Abitur gemacht. Also jeder sein eigenes natürlich.

In jedem Falle erzählte er mir von einem gemeinsamen Bekannten, der mittlerweile vier Kinder von vier verschiedenen Frauen hat. Alle unehelich, denn verheiratet war er die ganzen Jahre mit einer anderen Frau, die wiederum drei Kinder von drei verschiedenen Männern hat. Keines jedoch von ihm. Wohlgemerkt: Alle Kinder sind während ihrer gemeinsamen Ehe geboren.

Wann immer ich solche Geschichten höre, denke ich denselben Gedanken. Gut, so eine Geschichte hatte ich vorher noch nie gehört. Aber wann immer ich ähnliche Geschichten höre, denke ich wirklich stets denselben Gedanken.

Ich denke: Alle anderen erleben mehr als ich. Bei denen ist einfach mehr los in ihrem Leben. Irgendwie.

Ich habe kein einziges uneheliches Kind, Also außer meinem eigenen. Aber das ist ja nur unehelich, weil wir nicht verheiratet sind. Das gilt nicht. Ich habe kein normal uneheliches Kind. Außerhalb der Beziehung. Und da bin ich mir zu allem Überfluss auch noch ganz, ganz sicher. Das macht es nicht besser.

Dabei wäre ich garantiert ein sehr guter unehelicher Vater. Ich würde alles richtig machen. Wäre verständnisvoll, behutsam mit dem Kind und aufrichtig interessiert die Mutter kennenzulernen. Immerhin hätte ich die ja noch nie in meinem Leben gesehen. Aber wenn unser Kind uns einander vorstellen wollte, würde ich mich dem nicht verweigern.

Regentage haben ihre ganz eigenen Gedanken sagt man. Der heutige hat das bei mir aber mal so richtig bestätigt.

Es winkt und grüßt Dich

Horst

#71 Gedanken beim Spargelschälen

Lieber Horst,

Auch ich bin mir relativ sicher, dass ich keine unehelichen Kinder habe, von denen ich nichts weiß. Ich glaube, das hätte ich mitbekommen.

Mir taten ja die Frauen so leid, die in der ersten Phase der Corona-Krise ganz ohne Beistand entbinden mussten. Auch die Männer taten mir leid, die sich all die Monate vorbereitet hatten und dann nicht mal als Begleitperson mit in den Kreißsaal durften. Das ist schon bitter.
„Grausam“, befand auch ein Freund von mir, der als Gynäkologe im Krankenhaus arbeitet.  „Ehrlich gesagt…“, hatte er etwas nachdenklich hinzugefügt, „war das aber auch ein sehr entspanntes Arbeiten, weil sich nicht ständig jemand um all die präkollaptischen Männer kümmern musste.“
Über den Klinikalltag in der Geburtshilfe könnte man vermutlich auch mal ein Buch schreiben. Ich weiß noch, dass die Frau vor mir zu Marschmusik entbunden hat.
Egal.

Beim Thema „uneheliches Kind“ fiel mir ein kleines Gespräch wieder ein, das sich zur Kinderladenzeit meines Sohnes zugetragen hat.  Er hatte damals im Sandkasten einem anderen Kind sehr stolz erklärt, er sei „ein Kind der Liebe“. Diesen doch recht antiquierten Ausdruck hatte er irgendwo aufgeschnappt und prompt behalten, vermutlich war wieder eine meiner unzähligen Tanten zu Besuch gewesen.

Das andere Kind ging daraufhin zu seinem Papa, der in seine Zeitung vertieft auf einer Bank saß, und fragte ihn „Papa, bin ich auch ein Kind der Liebe?“. „Nein!“ sagte der, „Quatsch!“
Dann las er weiter. Bis heute bin ich nicht sicher, wie er die Frage interpretiert hat. Aber dem Tonfall nach hatte er, fürchte ich, in jeder Hinsicht recht…

Ach ja, Planet Kinderladen.
„Mama, Dominique kriegt immer was anderes zu essen.“
„Ist Dominique vielleicht Vegetarier?“
„Nein, er spricht deutsch.“

Als das erste Mal Spargel auf seinem Teller lag, fragte er mit angstgeweiteten Augen „Hat… das … Gräten?“

Das fällt mir gerade ein, denn heute gibt es bei uns Spargel zum Abendessen, den gehe ich jetzt mal schälen. Dabei denke ich ja immer ein bißchen an Weihnachten. Und ich schätze, es gibt nicht viele Menschen, die beim Spargelschälen an Weihnachten denken. Immer, wenn ich früher zur Weihnachtszeit gestresst und hektisch von all den Vorbereitungen durchs Büro lief und rief „O Gott, in einer Woche ist schon Heiligabend!“, sagte meine Kollegin Pia nur gelassen „Und in fünf Monaten gibt´s wieder Spargel.“
Das hat mich immer unheimlich beruhigt.

Mit warmem Herzen und kühlem Riesling grüßt Dich

Susanne

#72 Die Maske steht Dir wirklich gut

Liebe Susanne,

eine bislang eher wenig beachtete Corona-Folge sind ja tatsächlich die zwiespältigen Komplimente, die diese Zeit so mit sich bringt.

„Die Maske steht Dir wirklich gut,“ habe ich mittlerweile weit mehr als einmal gehört. 

Aber auch schon die Varianten:

 „Durch die Maske bekommt Dein Gesicht etwas irgendwie besonderes.“ 

„Mit Maske merkt man mal, dass Deine Augen ganz schön sind.“ 

und „Du hast echt ein Maskengesicht.“

Durfte ich alles schon hören.

Leider war jeder dieser Sätze glaubhaft gut gemeint und damit natürlich noch zusätzlich niederschmetternd.

Zudem habe ich große Schwierigkeiten, andere unter ihrer Maske zu erkennen. Seit Wochen schon grüße ich praktisch täglich einen Mann in unserem Viertel, von dem ich keine Ahnung habe, wer er sein könnte.

 Er trägt immer seine Maske. So ein Spidermann-Muster. Genau genommen grüße ich nur die Maske. Wahrscheinlich gibt es mehrere Spidermänner in unserer Ecke, die ich alle für denselben Menschen halte und grüße. Vermutlich hält man deshalb Spiderman für einen Superhelden. Weil er ständig praktisch überall ist.

Grundsätzlich wäre jetzt natürlich mal die Zeit auch selbst Superheld zu sein. Also zumindest von der Maske her. Aber welcher Superheld möchte ich eigentlich sein? Karl Liebknecht? Frida Kahlo? Professor Drosten? Franz Kafka? Saul Goodman? 

Irgendwie fällt mir kein richtiger Superheld ein, in dessen Rolle ich mich mir vorstellen könnte. Aber vielleicht zumindest eine Superheldenkraft?

Ich glaube, wenn ich von allen Superhelden und Superheldinnen der Menschheits-, Kultur-, und Popkulturgeschichte mir eine Superheldenfähigkeit aussuchen dürfte, würde ich wahrscheinlich die von Daniel Düsentrieb nehmen. 

Eben weil ich so schlecht im Dinge bauen bin. Ich kann nur über meine Erfindungen quatschen. Von all dem, was ich mir so ausdenke groß daherreden. Das kann ich.

Aber Erfindungen machen, im Sinne von bauen findet bei mir nicht statt.

Insofern bin ich wohl ein bisschen wie Berlin. Ist Berlin eine Superheldenfähigkeit? Oder überhaupt eine Fähigkeit? Und wenn ja, gibt es Berlin als Maske?

Fragen über Fragen. Welche Superheldinnenfähigkeit würdest Du Dir wünschen?

Es winkt und grüßt

Horst

#73 Die Kleider waren sehr schön

Lieber Horst,

Ja, es gibt wirklich Komplimente, über die man einen Moment nachdenken kann. Du hast ein Maskengesicht liegt da, finde ich, ganz weit vorn, das kommt noch vor Burkafigur.

Wenn ich es recht überlege, habe ich schon öfter in meinem Leben Komplimente bekommen, die auf die eine oder andere Art nachgeklungen haben. Manchmal werden Botschaften ja ein wenig verklausuliert zum Ausdruck gebracht, dann braucht es schon mal einen Moment.

Ich habe in jungen Jahren mal in einem sehr ambitionierten Jazz-Vokal-Chor mitgesungen. Das waren großartige Zeiten.
Wir sind sogar mal als Berliner Meister zum bundesdeutschen Chorwettbewerb nach Fulda gefahren, ´94 war das. Alle waren sehr aufgeregt. Wir probten wie verrückt, perfektionierten unser Bühnenoutfit, ich trug das erste und einzige maßgeschneiderte Kleid meines Lebens. Der Wettbewerbstitel, den es einzustudieren galt, war Africa von Toto. Alles a capella, versteht sich, noch heute könntest Du mich jederzeit aus dem Tiefschlaf reißen – wenn Du babopbopbadopbopbah sagst, würde ich sofort mit didididididididididididididididi antworten. Ich weiß, dass es den anderen auch so geht. Wenn wir irgendwann dement im Altersheim sitzen, macht Africa an, Africa wird noch da sein, wenn alles andere unseren Geist verlassen hat, as sure as Kilimanjaro rises like Olympus above the Serengeti.
Jedenfalls gab es in Fulda auch diesen Moment.
Als wir nach unserem Auftritt erwartungsvoll vor die Jury traten, um unsere Beurteilung entgegenzunehmen. Ich erinnere mich an das bedrückende Schweigen der Juroren. Dann sagte einer:
„Die Kleider waren sehr schön!“
Mehr sagte er nicht.

Das sitzt bis heute tief. Ich glaube, wir haben dann am Ende Platz 11 belegt. Von 12. Wobei die auf Nr. 12 wegen formaler Fehler ausgeschieden waren. 

Dieser Satz jedenfalls ist, finde ich, ein gutes Beispiel für Sätze, die eigentlich das Zeug zum schönen Kompliment haben, wenn nur der elende Kontext nicht wäre.

In der Bergmannstraße, es ist noch nicht so lange her,  blieb mal eine etwas verhuschte Frau vor mir stehen, strahlte mich an und sagte begeistert: „Sie haben ja ein unglaublich ausdrucksstarkes Gesicht!“ Das hört man ja auch nicht alle Tage, und ich hätte mich auch richtig gefreut, wäre der Satz nicht weitergegangen mit  „Möchten Sie eine Auralesung für 25 €?“

Nach dem Frühschoppen fuhr ich mal mit dem Bus nach Hause, hatte mir für die Bühne die Fingernägel recht abenteuerlich lackiert.
Ein eher schüchtern wirkender Mann, der neben mir saß, sprach mich darauf an: „Entschuldigung, das muss ich ihnen jetzt einfach sagen. So viel Farbe an einem so trüben Tag, das macht richtig gute Laune.“ Das fand ich schön. Ich mag es, Menschen zum Lächeln zu bringen. Leider nahm er dann den Bogen von den Farben zum Licht, zum ewigen, wenn auch ich Licht und Klarheit suche…usw.
Ich solle im Internet unter jw-org nachschauen, rief er mir noch nach als ich ausstieg, dort fände ich die Lösung für alles.
Die Lösung für alles. Das ließ mir keine Ruhe. Zu Hause rief ich die Seite auf und natürlich – da war meine Leitung sehr lang gewesen – war es die Seite der Zeugen Jehovas. Die ich sehr schnell wieder wegklickte. Denn was ich in den Gesichtern der Menschen erkenne, die den Wachturm an der Straßenecke verteilen, ist sehr vieles, aber Licht ist es selten.
Ziemlich lustig finde ich offen gestanden, dass es keine Seite gibt die jw-de heißt. Also jwd, verstehste, Hotte, Berliner Sprech für: janz weit draußen. Das würde mir in dem Kontext schon gefallen.

Verflixt, jetzt habe ich mich wieder verplaudert.
Eigentlich wollte ich noch auf die Superkräfte zurückkommen.  

Für heute vielleicht so viel: Ich bin urlaubsreif.
Insofern wäre mir die Superkraft, zu verschwinden, momentan die allerliebste.

Tief im Innern janz weit draußen
grüßt Dich

Susanne

#74 Woanders

Liebe Susanne,

die Kleider sind aber wirklich sehr schön.

Chöre sind eben nicht nur Infektions-Hotspots, sie sind auch Fettnäpfchen-Tiefebenen. 

Der Chor, in dem ich in meiner Jugend gesungen habe, war auch recht ambitioniert und litt unter dem ungewöhnlichen Problem eines zu geringen Durchschnittsalters. Konkrete Schwierigkeit war, daß die vielen Schülerinnen und Schüler in diesem Chor, nach ihrem Abschluss meist unverzüglich den Landkreis Diepholz verlassen haben. Aus guten Gründen. Da man in Diepholz nicht vergleichende Literaturwissenschaften studieren kann zum Beispiel. 

Eigentlich kann man in Diepholz gar nichts studieren. Doch das war nichtmal die entscheidende Fluchtursache. Vor allem kann man im Landkreis Diepholz nicht aus Diepholz wegziehen. Und das war für die meisten Schulabgänger zu jener Zeit der Fixpunkt in ihrer Lebensplanung. 

„Woanders.“ So lautete tatsächlich meine Antwort auf die Frage in der Abiturzeitung, wo ich mich in 20 Jahren sähe.

Für den Chor bedeutete dies in jedem Jahr empfindliche Verluste, mühsame Neuproben von Repertoire-Stücken und ständige Umbesetzungen der Soloparts. 

Daher freute sich der Chorleiter vor allem über ältere Neumitglieder. Also älter als Schulkinder. Dies führte dazu, daß er einmal zwei neue Frauen, die vielleicht Mitte dreissig waren, mit den Worten begrüßte:

„Der Chor braucht vor allem solche Frauen wie Euch, die ihr Leben, wie ich sehe, schon im Großen und Ganzen hinter sich gebracht haben.“

Bis heute weiß ich nicht, was er eigentlich sagen wollte. Die beiden Frauen jedoch sind kein zweites Mal erschienen.

Da fällt mir ein, daß vorgestern schon zum dritten Mal jemand zu mir sagte: „Du bist ja nun doch auch Risikogruppe, oder?“

Ich bin 53, rauche nicht und habe auch keine Vorerkrankungen, von denen die jeweiligen Gegenüber wissen können. 

Warum halten Sie mich für eine Risikogruppe? Nicht daß es mich stören würde, Risikogruppe zu sein, aber nachdenklich macht mich das schon.

Das sind in jedem Fall so Momente, wo ich dann gerne auf die Frage
„Wo siehst Du Dich in 20 Sekunden?“
antworten würde:

„Woanders.“

Von hier grüßt Dich 

Horst

#76 Unterwegs in der sterilen Gesellschaft

Liebe Susanne,

Ja es stimmt, die „neue Normalität“ nimmt langsam Formen an.

Ich zum Beispiel schreibe diesen Brief aus dem ICE nach München. Es ist lange her, daß ich was in der Bahn geschrieben habe. Es war der erste Beitrag für den Krisenkalender am 17. März.

Damals schrieb ich:
„Am Wochenende in Leipzig bin ich noch auf einen Zug gehastet. Ich hab ihn gerade so geschafft. Also eigentlich, denn als ich am Bahnhof ankam, musste ich feststellen, daß er ersatzlos gestrichen war. Habe deshalb einen Bahnmitarbeiter gefragt: 

„Oje, ist das wegen Corona?“

Er hat mich sehr freundlich und traurig angesehen, um dann emotionslos zu antworten.

„Nein, nein, das ist einfach ganz normal wegen Bahn.“

Seitdem ist viel passiert. Nun, da ich zurück im ICE bin, muss ich feststellen:

 Er fährt. Er ist pünktlich. Er ist extrem sauber und fast leer. 

Vielleicht ist ja doch was dran an der These, daß sich alle Probleme der Bahn von allein lösen würden, wenn man nur auf die Fahrgäste verzichten täte.

Dies ist nun allerdings auch der erste Text, den ich mit Mund- und Nasenschutz schreibe. Ich habe fünf verschiedene Masken mitgenommen, um nach und nach herauszufinden, mit welcher man am Besten schreiben kann. Nach nur einer Stunde Fahrt glaube ich schon ein recht belastbares Ergebnis ermittelt zu haben:

Mit keiner.

Verändert es die Geschichten, wenn man sie mit Atemschutz schreibt? Werden sie hygienischer? Klinischer? Kurzatmiger? Schlechtgelaunter? Müder? Neurotischer? Alles?

Die sterile Gesellschaft. Das haben wir nun bekommen. Was wird das mit den Menschen machen?

Als Bauernhofkind, dem zur Sauberkeit ein eher pragmatisches Verhältnis anerzogen wurde, waren mir die Putz- und Ordnungsliebhaber immer eher suspekt. 

Offen gestanden habe ich ihren Reinlichkeitswahn stets mehr für eine Marotte, wenn nicht gar eine Verhaltensstörung gehalten. Nun jedoch triumphieren sie. 

Täglich beobachte ich, wie sie aufblühen und die sterile Gesellschaft geniessen oder verlangen. Die Aggressivität mit der dies zeitweise geschieht, verunsichert mich.

Mir ist klar, daß vieles von dem, was ich in der Schule gelernt habe, nicht mehr aktuell ist. Oft erfahre ich das erst mit jahrelanger Verzögerung und denke solange weiter den Unsinn aus meiner Kindheit.

 Gilt dies auch für die Annahme, daß eine keimfreie Gesellschaft immer weniger widerstandsfähig gegen Alltagskeime wird? Habe ich, wie so oft, wieder einfach nur was verpasst?

Ich schreibe dies tatsächlich alles nur, weil gerade wirklich ein Fahrgast durch den Zug spaziert und alle anderen Reisenden unterrichtet, wie sie ihre Maske richtig zu tragen haben. 

Einerseits bin ich ein wenig irritierend stolz, daß er bei mir nichts zu beanstanden hatte. Andererseits macht mich die Rigorosität, mit der er andere anherrscht, ratlos.

 Gott sei Dank sind so wenige unterwegs. Da war er nicht sehr lange in unserem Waggon. Dennoch reichte es für zwei massive Wortgefechte. Ich sag mal: Im mittleren Westen der USA wäre jetzt mindestens einer tot.

Auf dem Rückweg beließ er es bei einem fatalistischen „Immernoch verkehrt!“ gegen die, die es immernoch verkehrt machten. Ich bekam ein freundliches Lächeln mit den Augen und erwischte mich dabei, wie ich mich darüber freute. 

Mehr noch, wie ich dachte: „Wieso können es die Anderen nicht auch einfach richtig machen. Die sehen doch, daß er kommt. So schwer ist es ja nun wirklich nicht.“

Womit ich ja nun andrerseits auch wieder recht habe.

Nun gut. Zur Frage, wie Texte mit Maske werden, kann ich fürs Erste schonmal sagen:

Länger

…und mürrischer wohl auch. Wenn ich demnächst wieder häufiger im Zug sitze, werde ich mir da vermutlich was überlegen müssen. Doch jetzt lasse ich das erstmal so stehen. Als Zeitzeugnis quasi.

Fahrende Grüße sendet Dir

Horst

#77 An der Zeit

Lieber Horst,

Das klingt für Dich jetzt vielleicht etwas unwahrscheinlich – aber möglicherweise ist da unser Hauswart mit Dir im Zug gefahren.
Ich hoffe, er ist nicht so lange weg, denn ohne ihn weiß hier niemand in der Straße, wie man es richtig macht. Also, egal was. Wie man eine Maske trägt, wie man sich vor der Apotheke richtig anstellt (gerade), wie man ein Fahrrad anschließt (gar nicht). Auch wenn Du nicht weißt, wie Du einen Eierkarton ordnungsgemäß entsorgst (in maximal briefmarkengroßen Stückchen nämlich) – das macht nichts, er trägt ihn direkt aus dem Müll zur Dir zurück in den 4. Stock. Und erklärt es Dir.

Um genau zu sein, ist er gar nicht unser Hauswart. Er wohnt nur im Haus schräg gegenüber, er ist der selbsternannte Hüter der Ordnung der Straße. Wir hatten mal kurz überlegt, ihm eine Schiebermütze mit der Aufschrift Blockwart zu schenken, haben es dann aber doch gelassen, weil zu befürchten steht, dass er sich freuen würde.

Morgen werde ich persönlich auch einen Beitrag leisten, dass es in unserer Straße wieder ordentlicher aussieht. Ja, Horst, ich kann die Gerüchte bestätigen, es ist so weit:
Ich habe einen Friseurtermin.

Ich war so lange nicht beim Friseur, ich weiß gar nicht mehr wie das geht. Ich hoffe, meinem Friseur geht es da anders.

Ich freue mich auf Günther, wir haben uns immer viel zu erzählen.
Früher war ich ja eine Zeitlang immer bei einem Friseursalon in der Fidicinstraße, sehr hip. So hip, Du hättest nach einem doppelt geschäumten laktosefreien Bio-Milchmalzkaffee und einem Glas Vollmondwasser fragen können, sie hätten nicht mal mit der Wimper gezuckt.

Als mir das irgendwann zu teuer wurde und ich auf Empfehlung einer Freundin bei Günther an der Kaisereiche anlandete, führte dieser mich auch gleich an seine Auffassung vom Servicegedanken heran: „Kaffe kannze nebenan trinken, hier is Haare schneiden“.
Ich hatte ihn von Stund an ins Herz geschlossen.

Ich bin gespannt, was er zu erzählen hat in diesen, naja, haarigen Zeiten halt.

Sicher war er wieder auf Tour, Günther ist nämlich begeisterter Motorradfahrer.
In Erinnerung an seine erste Maschine enthält seine private E-Mail-Adresse das Wort „Triumph“, weshalb er sehr viel unerwünschte Werbung für Unterwäsche bekommt.

Gibt es eigentlich schon Neues aus der Kategorie bekloppte Friseurnamen? Was kann nach Hair Cooles und Fön-X noch kommen? Vielleicht Locke down?
Bericht folgt…

Lili sagt übrigens, es ist an der Zeit, dass alle wieder normal arbeiten gehen, der Hund kann nicht mehr.
Das lasse ich jetzt mal so stehen.

Fröhlich zerzaust grüßt Dich

Susanne

PS: Nachtrag – gestern hat eine Möwe auf unsern Balkon geschissen, das war fast ein bißchen wie Ostseeurlaub. Siehst Du, Optimismus kann man trainieren wie einen Muskel (*hysterisches Kichern*)