#1 Prinzip Hoffnung

Lieber Horst,

Die Corona-Welle schwappt durchs Land. Was für seltsame Zeiten. Letzte Woche haben wir beim Frühschoppen noch voller Leichtigkeit über Hysteriker gelästert und Klopapier verlost… und dann ging plötzlich alles sehr schnell. Ein paar Tage später waren die Bühnen dicht, die Schulen seit heute ebenfalls, und auch Alex ist plötzlich im Homeoffice. 

Wie viele andere, die sich sonst im Alltag eher die Klinke in die Hand geben und darüber klagen, dass sie sich zu selten sehen, sind auch wir nun zu Hause. 
Immer. 
Alle. 
Das ist, hm, wie sag ich es jetzt. Sagen wir einfach, es ist interessant.  
Ich höre, dass viele über die steigenden Geburtenraten reden, mit denen in zehn Monaten zu rechnen sei, bei all dem unverhofften Miteinander in den eigenen vier Wänden, zwinkerzwinker. Ich frage Dich: Warum zur Hölle redet keiner über die Scheidungsraten?!
Auch die Stimmung in der Stadt, wenn man denn doch mal zum Einkaufen das Haus verlässt, ist angespannt. 

Kurzum – es ist nicht leicht dieser Tage, die schönen Dinge im Auge zu behalten. Lass es uns trotzdem versuchen. 
Ich fang mal an:

Der Himmel ist blau, der Frühling weiß nichts von Corona und beeindruckt mich mit seiner unbeirrbaren Schönheit.

Die ersten flauschigen Mauerbienen machen es sich auf unserem Balkon gemütlich.

Die Versicherung hat gezahlt und ich habe mir noch schnell ein neues Fahrrad gekauft, bevor die meisten Geschäfte morgen schließen. Ich habe jetzt also ganz offiziell mein eigenes Hamsterrad!

Liebe Grüße,
Susanne 

#2 In der Drogerie

Liebe Susanne,

folgendes kleine Erlebnis von Gestern möchte ich Dir nicht vorenthalten.

Der Drogeriemarkt ist eine Stunde vor Ladenschluss dann doch ziemlich leergeräumt. Ein junges Paar betrachtet ratlos die leeren Toilettenpapierregale. 

„Was machen wir denn jetzt?“, fragt sie.

„Weiß nicht,“ antwortet er. Kurze Zeit später sehe ich sie lange und nachdenklich vor den Servietten stehen. Es sind leider nur noch die Kindergeburtstagsmotive übrig. Da gab es bislang wohl doch noch irgendwie eine Hemmschwelle.

Alle sagen, man soll sich nicht übertrieben bevorraten. Das finde ich ja auch. Und die Familie erstrecht. Als ich kürzlich in unserer Küche meinen Rucksack auspackte und auch zu meiner eigenen Überraschung feststellen musste, daß ich offensichtlich sechs Packungen passierte Tomaten gekauft hatte, war die Familie entsetzt:

„Was machst Du denn? Sechs Packungen? Du hast sechs Packungen passierte Tomaten gekauft? Spinnst Du? Hat Dich jemand dabei gesehen?“

Ich versuchte sie zu beruhigen. „Nein, nein. Ich habe alle in unterschiedlichen Geschäften gekauft.  Niemand wird Verdacht schöpfen.

-Na gut. Aber trotzdem. Was sollen wir denn mit den ganzen passierten Tomaten?

-Weiß nicht. Aber vielleicht können wir sie, wenn es richtig ernst wird, gegen Zigaretten tauschen.

-Warum? Keiner von uns raucht?

-Ja gut. Einerseits richtig. Aber andrerseits sollten wir uns auch von der Vorstellung verabschieden, alles planen zu können.“

Am Wochenende in Leipzig bin ich noch auf einen Zug gehastet. Ich hab ihn gerade so geschafft. Also eigentlich, denn als ich am Bahnhof ankam, musste ich feststellen, daß er ersatzlos gestrichen war. Habe deshalb einen Bahnmitarbeiter gefragt: „Oje, ist das wegen Corona?“

Er hat mich sehr freundlich und traurig angesehen, um dann emotionslos zu antworten.

„Nein, nein, das ist einfach ganz normal wegen Bahn.“

Was mich beruhigt hat. Man ist ja dieser Tage immer froh, wenns nicht Corona ist. Bei einem benachbarten Telefonierer habe ich gestern den Satzfetzen aufgeschnappt: „War aber dann doch Gott sei Dank nur eine Lungenentzündung…“ Aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Hoffe ich mal. Wegen des Mindestabstands kriegt man die Gespräche der Anderen ja oft gar nicht mehr richtig gut mit. Auch so ein sozialer Verlust, der kaum thematisiert wird.

Doch wie dem auch sei, Susanne. Zum Schluss für Dich noch was Schönes. Nämlich meine Lieblings-Corona-Meldung bislang:

„Nur ein Prozent der Bevölkerung besitzt 90 Prozent des gesamten Klopapiers.“ Die Kräfteverhältnisse verschieben sich.

Bis bald,
Horst

#3 Philadelphus coronarius

Lieber Horst,

im Internet kursieren jetzt viele Videos von singenden Menschen auf italienischen Balkonen, das finde ich sehr berührend. Ich war gerade mal auf dem Balkon und habe mir vorgestellt, das hier auch zu machen, wenn die Ausgangssperre kommt. Ein Klavier wäre auch da. Allerdings steht zu befürchten, dass die Leute hier eher die Polizei rufen oder Blumentöpfe nach mir werfen würden. Ich wohne ja in Steglitz, das ist nicht immer einfach. 
Sagen wir mal so, in meiner ersten Wohnung hier in der Gegend hatte ich schon als seltsame Kräuterhexe gegolten, weil ich Basilikum besaß. Das war den Geranienmenschen sehr unheimlich. Wenn ich jetzt noch anfange zu singen …

Nachher soll es eine Ansprache der Kanzlerin geben. Allein die Tatsache bestärkt einen schon in diesem Gefühl von Ausnahmezustand, findest Du nicht? Ich bin gespannt. 

So lange gehe ich den Balkon bepflanzen. Von Lidl habe ich vorhin einen Zierstrauch mitgebracht, den ich den Bildern auf der Verpackung nach für wilden Jasmin halte. Zu Hause erst las ich den Namen: Philadelphus coronarius. Kein Scherz. Irgendwas sagt mir, der wird gut wachsen.  

Ich habe ja kein eigenes Zimmer, in das ich mich zurückziehen kann. „Aber du hast doch die Küche“ hat mein Sohn mal gesagt. Aber nur einmal.  Jedenfalls bin ich froh, dass ich immerhin den Balkon mehr oder weniger mein eigen nennen kann, auch wenn er im Moment voll mit Weinflaschen und Bierkisten steht. Ja nun, jeder hortet auf seine Weise. 

(Seit die Kinder letzte Woche einkaufen waren, haben wir auch genug Chips und Schokolade für Monate. Alwo theoretüff.)

Liebe Grüße,
Susanne

#4 Und dann geht es wieder

Liebe Susanne,

gerade habe ich das Paar von neulich aus der Drogerie wieder gesehen. Diesmal standen sie vor den leeren Konservenregalen im Supermarkt. Unterm Arm hatte er einen großen Beutel mit Kindergeburtstagspapierservietten. Es gab nur noch einige Dosen mit hellgrauen Königsberger Klopsen auf dem Dosenfoto. Erneut sind die beiden sehr nachdenklich.

Er: „Das sieht jetzt aber wirklich super eklig aus.“

Sie: „Ja gut, aber wenn Du richtig Hunger hast…“

Er: „Genau, dann gucke ich einfach dieses Bild an und dann geht es wieder.“

Sie nehmen eine Dose.

In den Regalen der Märkte erkennt man jetzt tatsächlich mal die echten Loser-Lebensmittel. Die, die selbst zu Corona-Zeiten keiner will. Auch interessant.

In China verpflichten sie angeblich jetzt Bürger eine Corona-Kontroll-App zu installieren, die man sich im Prinzip wohl wie eine virtuelle elektronische Fussfessel vorstellen muss. Mit der können dann Ausgangs- oder Regionalsperren überwacht werden. Als Maria davon hörte, regte sie an sich einen Hund anzuschaffen. Dann dürften wir auch im Falle einer Ausgangssperre noch zweimal täglich raus. Ich gab zu bedenken, daß wir dann aber auch einen Esser mehr hätten und das einzige, was wir richtig im großen Stil bevorratet haben, sind ja passierte Tomaten. Ob das einem Hund gefällt? Sie meinte, wenn wir einen Hund hätten, müssten wir natürlich ganz anders vorsorgen. Das gab mir zu denken. Wenn ich ein Hund wäre, dürfte ich also trotz Ausgangssperre raus und mir viel größere Vorräte anlegen? Welche Vorteile könnte es noch haben, ein Hund zu sein? Wie schwierig wäre es wohl, behördlicherseits als Hund anerkannt zu werden?

Am zwei Meter entfernten Nebentisch im Café beklagte sich gestern ein Mann wegen des Home-Office, zu dem er jetzt verdonnert wurde: „Die ganze Familie beobachtet jetzt, was ich den ganzen Tag mache. Und ich kann spüren, wie sie denken: Und das ist alles? Mehr macht der nicht? Und darüber klagt der ständig, was das für ein Stress sei? Das ist ja lächerlich. Ich überlege ständig, was ich noch arbeiten könnte, um die Familie zu beeindrucken. Diese soziale Kontrolle ist die Hölle…“

Betrachten deshalb große Unternehmen in Asien immer alle Angestellten als Familienangehörige? Da sie wissen, nichts transportiert und lenkt den Druck besser als eine Familie? Ich glaube, wenn mal die ganze Corona-Geschichte vorbei ist, werden viele mit einem ganz anderen Glücksgefühl, einer ganz anderen Dankbarkeit wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Guck Susanne, jetzt habe ich wieder einen schönen, sehr positiven Schluss gefunden.

Horst