#55 Was dich nicht glücklich macht

Lieber Horst,

ein guter Freund hat mir Anfang des Jahres eine Postkarte geschickt mit dem Spruch darauf: 
„Was dich nicht glücklich macht, kann weg!“ 
Ich habe sie an den Kühlschrank gebappt, weil mir der Ansatz gut gefiel, und heute gerade wieder drüber nachgedacht.

Corona könnte dann jetzt weg, Horst. 

Die aktuellen Lockerungen stimmen mich zwar verhalten fröhlich – aber verhalten überwiegt. Die Skepsis bleibt unsere stete Begleiterin, der Übermut hat Pause.
Jetzt patrouillieren auch hier am Kanalweg Polizeiautos, das hattest Du auch schon mal beobachtet, wie dann die Massen immer ganz eng zusammenrücken, um sie durchzulassen. Und beim Einkaufen neulich hat einer seine Maske kurz abgenommen, weil er niesen musste. Danach hat er sie wieder aufgesetzt. 
Bei solchen Szenen gehen mir immer so ungeduldige Comiclaute durch den Kopf (Gnggnggng!) und ich würde mir gerne mit der Hand vor die Stirn schlagen, aber ins Gesicht fassen darf man sich ja gerade nicht. 
Möglicherweise bin ich selbst ja auch keine Heilige, was Hygienevorschriften anbelangt – aber immerhin konsequent genug, um mir hier jetzt nicht in aller Öffentlichkeit an die eigene Nase zu fassen.
Ha!

Momentan reden ja gerade alle über diese vermaledeite 50. Versteh mich nicht falsch, ich habe das mit den Neuinfektionen pro Einwohner von der wissenschaftlichen Dimension her schon genau verstanden. Und dennoch zuckt etwas in mir jedesmal ganz unwissenschaftlich zusammen, wenn von 50 als Obergrenze gesprochen wird.
Ich gehe immerhin auf die Fünfzig zu, wie man es gemeinhin ausdrückt. Wobei ich diese Formulierung bei näherer Betrachtung auch nicht wirklich stimmig finde. Ich gehe nämlich überhaupt nicht auf die Fünfzig zu, die blöde Kuh kommt mir entgegen! Aber das ist ein anderes Thema.

Älterwerden. Älterwerden kann auch weg. 

Bei Deiner wirklich sehr berührenden Geschichte vom Herrn Major ist mir gleich meine Tante Gisela eingefallen. Tante Gisela hatte auch Schwierigkeiten mit dem Älterwerden und irgendwann offenbar beschlossen, bestimmte Veränderungen an sich einfach nicht mehr wahrzunehmen. Noch in ihren späten Achtzigern, als sie schon sehr lange komplett schneeweißes Haar hatte, war sie der Meinung, ihr „Blondton“ sei „eine Nuance heller geworden“. Damit kokettierte sie immer ein bißchen. „Andere müssen ja färben in meinem Alter, aber ich…“ sagte sie dann stolz. Ich glaube, auch das ist Resilienz. Nie hätten wir ihr widersprochen.

Meine Tante Gisela war die Schwester meiner Mutter, an die ich heute natürlich auch schon gedacht habe: Es ist Muttertag! 
Oh, was hat sie nicht alles mitgemacht… Selbstgemalte Bilder, getöpferte Aschenbecher (sie rauchte gar nicht), Gutscheine für Hilfe im Haushalt, die wir nie einlösten… Die Krönung war sicher, dass wir ihr in einem Jahr mal ein Waffeleisen schenkten. Wir fanden das eine tolle Idee, wir aßen sehr gerne Waffeln.

Auch aufgrund dieser etwas deprimierenden Erinnerungen wird der Muttertag in meiner Familie heute nicht wirklich begangen. Bei uns ist es ohnehin eher … – sagen wir so, als der Mann mal Basilikum eingekauft hatte, fragte der Kleine „Oh, hast du Mama wieder Blumen mitgebracht?“ 
Aber die Rose auf dem Balkon ist über Nacht von ganz allein aufgeblüht, der Mann hat Kaffee gemacht , die Kinder haben ganz entspannt den Frühstückstisch gedeckt und etwas in der Art von „Herzlichen Glückwunsch zu Deinen wohlgeratenen Kindern!“ gesagt. Das war wirklich sehr schön.
Zum Dank gehe ich vielleicht glatt mal gucken, ob ich das alte Waffeleisen finde. 

In diesem Sinne heute auch mal
glückliche Grüße von

Susanne

#56 Ich bin nur wegen den Blumen hier

Liebe Susanne,

auch wenn der Muttertag gestern war, möchte ich Dir noch von einer erstaunlichen Begebenheit berichten.

Ein VW Tiguan hält vor dem Blumenladen Mehringdamm/Ecke Bergmannstrasse, lässt die Scheibe runter und brüllt vom Beifahrersitz die ziemlich lange Warteschlange an:

 „Ihr wisst aber schon, daß dieser Scheiß-Muttertag, den ihr da feiert, von den Nazis kommt, oder?“

Alle sind perplex. Außer einer älteren Dame, die nach kurzem Überlegen mit bemerkenswert tragender Stimme antwortet:

„Abgesehen davon, daß der Muttertag in den USA erfunden wurde, werde ich in dem Moment aufhören ihn zu begehen, wo Du aufhörst, die Autobahnen zu benutzen.“

Nachdem sich der bedröppelte Tiguan mit runtergelassenem Fenster vom Bordstein gemacht hatte, hat sie uns anvertraut: 

„Eigentlich habe ich selbst ja auch gar nichts mit dem Muttertag am Hut. Ich bin nur wegen den Blumen hier. Und außerdem habe ich manchmal einfach Lust, böse zu den Blöden zu sein.“

Böse zu den Blöden sein. Welch schöne Formulierung. Wenngleich einen das böse zu den Blöden sein, ab und an auch selbst zum Blöden machen kann.

Als ich das letzte Mal böse zu einem Blöden war, habe ich mich zumindest auch nicht mit Ruhm bekleckert. Es passierte im Zug. Nach einem Sitzplatz-Disput. Ich war im Recht, aber er hatte den Platz, weil der Klügere nachgibt. 

Woran man sieht, was man davon hat, der Klügere zu sein. Nämlich ein schlechtes Gefühl und keinen Tischplatz. Ihm hingegen ging es sichtbar sehr gut. 

Als wollte er mich ärgern, hat er den Tisch dann gar nicht benutzt und nur gelesen. „Das zweite Zeichen“, ein Krimi von Ian Rankin. Also habe ich im Affekt den Roman gegoogelt und ihm kurz vor meinem Aussteigen den Mörder verraten. Als er mich nur verwundert angestarrt hat, habe ich ihm auch noch die Herleitung der Auflösung erläutert und geschlossen mit den Worten: „Schade, ist eigentlich ein ziemlich gutes und spannendes Buch, aber jetzt, wo sie alles wissen, wird es ihnen langweilig vorkommen.“

Woraufhin er tatsächlich ankündigte, mir gleich eins in die Fresse zu geben. Weshalb ich ihn aufklärte, daß ich mir den Mörder und die Herleitung nur ausgedacht hatte, um ihn zu ärgern. Denn selbst wenn man absichtlich böse ist, gibt es Grenzen.

 Eigentlich zumindest. Leider war es nämlich auch gelogen, daß ich mir den Mörder und die Herleitung ausgedacht hatte. Da ich es noch perfider fand, wenn er nun weiterlesen und erst nach und nach feststellen würde, daß er alles schon wusste. Von mir. Und mir jetzt keins mehr in die Fresse geben konnte.

Womit ich zusammenfassend sagen kann, daß ich mich hier wohl ziemlich blöde verhalten habe.

Blöde, aber reuevolle Grüße

Horst