Liebe Susanne,
Nun ist dies also tatsächlich schon der fünfzigste Brief, den wir uns schreiben. Also jeder 25.
Das heißt, das geht jetzt schon über sieben Wochen so. Mir kommt es mal kürzer, mal sehr viel länger vor. Manchmal aber auch wie sieben Wochen.
Wie bei so vielen Menschen ist auch mein Verhältnis zum Kalender mittlerweile eher so wie zum Alkohol. Ich brauche ihn nicht, aber ab und an hilft er mir schon.
Um mich zu erinnern. Viele trinken um zu vergessen, ich trinke, um mich zu erinnern.
An die Zeit, wo ich noch mehr und sorgloser getrunken habe. Ja teilweise war sogar meine einzige Sorge, daß ich zu viel trinken würde. Mir fehlen meine alten Sorgen manchmal sehr. Tatsächlich. Ich glaube, wenn man mich heute fragen würde, was ich aus meinen zwanziger Jahren am meisten vermisse, würde ich sagen: „Die Sorgen, die ich damals hatte.“
In Deinem ersten Brief schriebst Du, daß am nächsten Tag die Läden schliessen sollten. Deshalb haben viele noch schnell etwas auf Vorrat erworben. Du ein Fahrrad. Ein Hamsterrad, wie Du es damals so schön formuliertest.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag. Ein bisschen lag auch so eine Ferienstimmung über der Stadt. Heute sagt keiner mehr Ferien zu diesem Corona-Ding.
Herr Scholz und Frau Gates haben gestern unabhängig voneinander geäußert, daß es wahrscheinlich noch zwei Jahre dauern werde, bis wieder eine Art Normalität Einzug halten könne. Ich weiß nicht, wo die beiden gedenken, diese zwei Jahre zu verbringen. Aber außer den zweien kenne ich niemanden, der diesen Zustand noch zwei Jahre durchhalten würde.
Ich wäre sehr froh, wenn man sich drauf einigen könnte, daß so ein weltfremder, jahrelanger Dauerausnahmezustand sicher keine vorstellbare Option ist. Zumindest nicht für normale Menschen. Doch mich fragt ja keiner. Was wahrscheinlich auch ganz gut ist. Schliesslich antworte ich sowieso meistens nur, wenn keiner fragt. Denn auf die ganzen Fragen hätte ich ja auch keine Antworten. Doch solange mich keiner fragt, fällt mir das Antworten leicht.
50 Tage Corona-Lockdown. Es gab schon auch ein paar gute Dinge in dieser Zeit. Deine Briefe zum Beispiel. Dafür möchte ich Dir tatsächlich an dieser Stelle einmal ganz offiziell und herzlich danken.
Dein Horst
P.S.: Gerade sagte jemand in Park: „Wenn mein heutiger Gemütszustand ein Obst wäre, wäre es ein Apfelgriebsch.“ Ich wusste genau, was er meinte.