Liebe Susanne,
Anlässlich des Tages der Befreiung musste ich an das Demenz-Pflegeheim denken, in dem mein Vater seine letzten Monate verbrachte. Dort gab es nämlich einen Mann, der mich immer mit „der Herr Major“ ansprach. Das fand ich, offen gestanden, fast schmeichelhaft. Immerhin sah er in mir einen Offizier. Das war ja schon was.
Allerdings hat er mir dann auch stets einen Lagebericht gegeben. Die Lage war desaströs. Für einen Großteil der Patienten in diesem Hospital schloss er einen weiteren Dienst an der Waffe aus. Im Gegenteil. „Vielen von ihnen werden wir leider nicht mehr helfen können.“ Diesen Satz wiederholte er wie einen Refrain und raunte mir dann zu. „Einige von denen wissen gar nicht, wo sie hier sind und haben sich längst in eine völlige Phantasiewelt geflüchtet.“ Er habe daher beschlossen, einfach ihr Spiel mitzuspielen und ihnen gegenüber den Krieg gar nicht mehr zu erwähnen. Aus Barmherzigkeit.
Das wäre eigentlich ziemlich lustig gewesen, hätte ich nicht von einer der Pflegerinnen erfahren, daß dieser Mann ungefähr jede zweite Nacht durchschrie. „Sie werden eben wieder zu Kindern,“ meinte sie. „Sie schlafen einfach nicht mehr durch.“
Ein wirklicher Tag der Befreiung war der achte Mai wahrscheinlich nur für die nachfolgenden Generationen. Die, die diese Barbarei erlebt und sogar überlebt haben, blieben eben doch ihr Leben lang Gefangene dieses Krieges. Früher oder später zumindest. Täter wie Opfer.
Klar fühlt es sich vor diesem Hintergrund unwirklich an, heute von den Corona-Einschränkungen genervt zu sein. Insofern hätte es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt für diesen Feiertag geben können.
Ich habe in diesem Demenz-Pflegeheim seinerzeit übrigens immer versucht, mich auf die Erinnerungsrealitäten der Patienten einzulassen. Auch wenn diese meist nicht leicht zu verstehen und praktisch durch die Bank furchtbar waren. Ich versuchte zu ergründen, was in den Alten vorging. Erfolglos. Als wenn sie das selbst gewusst hätten.
Umso mehr bewunderte ich eine Schwester, die genau das Gegenteil tat. Sie sagte den Patienten einfach, was in ihnen vorging. Und die glaubten ihr das. Sie wusste, was ihre Leute sich wünschten, obwohl die selbst keine Ahnung davon hatten. Sie ging auf die Alten zu und sagte ihnen:
„Sie haben Hunger!“ „Sie haben Durst!“ „Sie sind müde!“ „Sie möchten einen Spaziergang machen!“ „Sie hören gerne diese Musik!“
Anfangs fand ich das schroff und übergriffig. Bis ich merkte, daß sie immer recht hatte. Sie war wie ein Amazon-Algorithmus. Nur ohne Amazon und ohne Algorithmus. Sie wusste einfach immer von allein, was die Leute sich wünschten und irrte sich nie. Alle mochten sie. Ich bewunderte sie sehr und hätte mir gewünscht, auch in den Genuss ihrer Fähigkeiten zu kommen.
„Sie wollen ihr zweites Staatsexamen machen!“ Hätte sie mir das gesagt, hätte ich garantiert mein Studium vernünftig abgeschlossen. Da bin ich sicher. Und ich wäre damit sehr zufrieden gewesen. Davon bin ich auch überzeugt.
Ob es allerdings gut für mich und mein weiteres Leben gewesen wäre, wenn ich mein Studium abgeschlossen hätte? Da habe ich erhebliche Zweifel.
Und das lässt mich dann doch wieder nachdenklich zurück.
Mit kryptischen Grüßen
Horst