#73 Die Kleider waren sehr schön

Lieber Horst,

Ja, es gibt wirklich Komplimente, über die man einen Moment nachdenken kann. Du hast ein Maskengesicht liegt da, finde ich, ganz weit vorn, das kommt noch vor Burkafigur.

Wenn ich es recht überlege, habe ich schon öfter in meinem Leben Komplimente bekommen, die auf die eine oder andere Art nachgeklungen haben. Manchmal werden Botschaften ja ein wenig verklausuliert zum Ausdruck gebracht, dann braucht es schon mal einen Moment.

Ich habe in jungen Jahren mal in einem sehr ambitionierten Jazz-Vokal-Chor mitgesungen. Das waren großartige Zeiten.
Wir sind sogar mal als Berliner Meister zum bundesdeutschen Chorwettbewerb nach Fulda gefahren, ´94 war das. Alle waren sehr aufgeregt. Wir probten wie verrückt, perfektionierten unser Bühnenoutfit, ich trug das erste und einzige maßgeschneiderte Kleid meines Lebens. Der Wettbewerbstitel, den es einzustudieren galt, war Africa von Toto. Alles a capella, versteht sich, noch heute könntest Du mich jederzeit aus dem Tiefschlaf reißen – wenn Du babopbopbadopbopbah sagst, würde ich sofort mit didididididididididididididididi antworten. Ich weiß, dass es den anderen auch so geht. Wenn wir irgendwann dement im Altersheim sitzen, macht Africa an, Africa wird noch da sein, wenn alles andere unseren Geist verlassen hat, as sure as Kilimanjaro rises like Olympus above the Serengeti.
Jedenfalls gab es in Fulda auch diesen Moment.
Als wir nach unserem Auftritt erwartungsvoll vor die Jury traten, um unsere Beurteilung entgegenzunehmen. Ich erinnere mich an das bedrückende Schweigen der Juroren. Dann sagte einer:
„Die Kleider waren sehr schön!“
Mehr sagte er nicht.

Das sitzt bis heute tief. Ich glaube, wir haben dann am Ende Platz 11 belegt. Von 12. Wobei die auf Nr. 12 wegen formaler Fehler ausgeschieden waren. 

Dieser Satz jedenfalls ist, finde ich, ein gutes Beispiel für Sätze, die eigentlich das Zeug zum schönen Kompliment haben, wenn nur der elende Kontext nicht wäre.

In der Bergmannstraße, es ist noch nicht so lange her,  blieb mal eine etwas verhuschte Frau vor mir stehen, strahlte mich an und sagte begeistert: „Sie haben ja ein unglaublich ausdrucksstarkes Gesicht!“ Das hört man ja auch nicht alle Tage, und ich hätte mich auch richtig gefreut, wäre der Satz nicht weitergegangen mit  „Möchten Sie eine Auralesung für 25 €?“

Nach dem Frühschoppen fuhr ich mal mit dem Bus nach Hause, hatte mir für die Bühne die Fingernägel recht abenteuerlich lackiert.
Ein eher schüchtern wirkender Mann, der neben mir saß, sprach mich darauf an: „Entschuldigung, das muss ich ihnen jetzt einfach sagen. So viel Farbe an einem so trüben Tag, das macht richtig gute Laune.“ Das fand ich schön. Ich mag es, Menschen zum Lächeln zu bringen. Leider nahm er dann den Bogen von den Farben zum Licht, zum ewigen, wenn auch ich Licht und Klarheit suche…usw.
Ich solle im Internet unter jw-org nachschauen, rief er mir noch nach als ich ausstieg, dort fände ich die Lösung für alles.
Die Lösung für alles. Das ließ mir keine Ruhe. Zu Hause rief ich die Seite auf und natürlich – da war meine Leitung sehr lang gewesen – war es die Seite der Zeugen Jehovas. Die ich sehr schnell wieder wegklickte. Denn was ich in den Gesichtern der Menschen erkenne, die den Wachturm an der Straßenecke verteilen, ist sehr vieles, aber Licht ist es selten.
Ziemlich lustig finde ich offen gestanden, dass es keine Seite gibt die jw-de heißt. Also jwd, verstehste, Hotte, Berliner Sprech für: janz weit draußen. Das würde mir in dem Kontext schon gefallen.

Verflixt, jetzt habe ich mich wieder verplaudert.
Eigentlich wollte ich noch auf die Superkräfte zurückkommen.  

Für heute vielleicht so viel: Ich bin urlaubsreif.
Insofern wäre mir die Superkraft, zu verschwinden, momentan die allerliebste.

Tief im Innern janz weit draußen
grüßt Dich

Susanne

#74 Woanders

Liebe Susanne,

die Kleider sind aber wirklich sehr schön.

Chöre sind eben nicht nur Infektions-Hotspots, sie sind auch Fettnäpfchen-Tiefebenen. 

Der Chor, in dem ich in meiner Jugend gesungen habe, war auch recht ambitioniert und litt unter dem ungewöhnlichen Problem eines zu geringen Durchschnittsalters. Konkrete Schwierigkeit war, daß die vielen Schülerinnen und Schüler in diesem Chor, nach ihrem Abschluss meist unverzüglich den Landkreis Diepholz verlassen haben. Aus guten Gründen. Da man in Diepholz nicht vergleichende Literaturwissenschaften studieren kann zum Beispiel. 

Eigentlich kann man in Diepholz gar nichts studieren. Doch das war nichtmal die entscheidende Fluchtursache. Vor allem kann man im Landkreis Diepholz nicht aus Diepholz wegziehen. Und das war für die meisten Schulabgänger zu jener Zeit der Fixpunkt in ihrer Lebensplanung. 

„Woanders.“ So lautete tatsächlich meine Antwort auf die Frage in der Abiturzeitung, wo ich mich in 20 Jahren sähe.

Für den Chor bedeutete dies in jedem Jahr empfindliche Verluste, mühsame Neuproben von Repertoire-Stücken und ständige Umbesetzungen der Soloparts. 

Daher freute sich der Chorleiter vor allem über ältere Neumitglieder. Also älter als Schulkinder. Dies führte dazu, daß er einmal zwei neue Frauen, die vielleicht Mitte dreissig waren, mit den Worten begrüßte:

„Der Chor braucht vor allem solche Frauen wie Euch, die ihr Leben, wie ich sehe, schon im Großen und Ganzen hinter sich gebracht haben.“

Bis heute weiß ich nicht, was er eigentlich sagen wollte. Die beiden Frauen jedoch sind kein zweites Mal erschienen.

Da fällt mir ein, daß vorgestern schon zum dritten Mal jemand zu mir sagte: „Du bist ja nun doch auch Risikogruppe, oder?“

Ich bin 53, rauche nicht und habe auch keine Vorerkrankungen, von denen die jeweiligen Gegenüber wissen können. 

Warum halten Sie mich für eine Risikogruppe? Nicht daß es mich stören würde, Risikogruppe zu sein, aber nachdenklich macht mich das schon.

Das sind in jedem Fall so Momente, wo ich dann gerne auf die Frage
„Wo siehst Du Dich in 20 Sekunden?“
antworten würde:

„Woanders.“

Von hier grüßt Dich 

Horst