#10 Die Jogginghose im Kopf

Liebe Susanne,

auch mir ist bereits aufgefallen, daß das spontane Applaudieren in der Stadt zugenommen hat. Mir gefällt das sehr. Heute vormittag habe ich an der Kreuzung Yorck/ Ecke Gneisenaustrasse einen Unfall zweier Radfahrer gesehen. Also den Unfall selbst habe ich nicht gesehen, nur die spätere Aufregung. Einer der beiden Männer hatte sich wohl leider wirklich was gebrochen. 

In jedem Falle haben die schaulustigen Passanten, als der Rettungswagen kam, tatsächlich geklatscht. Zuerst war es eigenartig, aber dann auf eine seltsame Art schön. Irgendwie befreiend. Alle applaudierten. Auch ich. Einfach so. Die Retter haben sich gefreut und sogar der Verletzte hat irgendwann gelacht und sich bedankt. 

Wir sollten das viel häufiger machen. Warum nicht mal ein Müllauto in einer Welle des Beifalls durch die Stadt rauschen lassen. Oder den Supermarktangestellten standing ovations an der Kasse bringen. Vermutlich wäre es ein Erlebnis für alle Beteiligten. Womöglich sogar ein nettes.

Doch noch was anderes beschäftigt mich. In der Zeitung habe ich gelesen, man soll sich im Home-Office nicht zu leger kleiden, da ein zu nachlässig oder gemütlich gewähltes Outfit durchaus Auswirkungen auf die Qualität oder Sorgfalt bei der Arbeit haben kann. 

Interessant. Diesen Aspekt habe ich beim Schreiben bislang eindeutig viel zu wenig beachtet. Welchen Einfluss auf meine Texte hätte es, wenn ich mich zum Verfassen derselben mal anders anziehen würde? Oder gar nicht? 

Habe bereits beschlossen, demnächst eine Geschichte von Anfang bis Ende splitterfasernackt zu schreiben. Das habe ich noch nie gemacht. Aber bald werde ich das mal tun. Einfach um zu sehen, wie die Geschichte dann so ist. Ob man der das anmerkt? 

Wahrscheinlich werde ich sie dann ganz normal vorlesen und hinterher dem Publikum erzählen, daß ich sie nackt geschrieben habe. Komplett. Im Moment kann ich das allerdings nicht machen. Da die Familie ja den ganzen Tag zuhause ist. Die würden das nicht schätzen. Sondern im Gegenteil. 

Ich könnte allerdings auch in verschiedenen Verkleidungen schreiben. Um zu schauen, wie sich das auf den Text auswirkt. Durch den Jahresrückblick habe ich ja einiges an Kostümen in meinem Fundus. Ich könnte einen Text als Eisbär verfassen, als Kim Jong Un, John Snow, Bischof Tebartz von Elst oder Xavier Naidoo. Habe ich alles noch da. Und hinterher das Publikum raten lassen, was ich in welcher Verkleidung geschrieben habe. Das wäre ein interessantes Experiment. Was denkst Du zum Beispiel in welcher Kleidung ich diesen Text in den Computer getippt habe? Pyjama, Küchenschürze oder Sporthose?

Möge der Stoff mit Dir sein

Horst