#22 Das brutzelt Dir das Obst weg

Liebe Susanne,

danke der Nachfrage. Hier ist alles prächtig. Also mal so vom Eingelegten her.

Weißt Du übrigens, daß ich einige Zeit meines Lebens damit verbracht habe, mir alte Berliner Redewendungen auszudenken?

Sowas wie: „Jetzt steht der mir hier wieder die Ecken voll!“ „Der guckt mir noch die Brille schmutzig“ oder „Das brutzelt Dir das Obst weg!“

Apropos Obst. Hast Du die Pressekonferenz der österreichischen Regierung gesehen? Alle mit Mundschutz. Irgendwie hat mich das auch an die früheren Videos der RAF-Terroristen erinnert. Ach die RAF. Da wird sich der Staat in ruhigen Momenten jetzt womöglich auch ab und an denken: Das waren noch Zeiten, als die mein größtes Problem waren.

Apropos Zeiten: Die Kinder haben gestern mit einem Programm gespielt, welches Menschen jünger machen kann. Also nicht in echt. So erfolgreich war das home-schooling nun auch nicht. Nur am Computer. Man macht ein Foto von sich und dann kann das Programm Dir mal eben so zwanzig, dreissig Jahre aus dem Gesicht rausmorphen. Das ist schon interessant. Aber auch erschreckend. Denn als mein dreißigjähriges Erscheinungsbild errechnet war, musste ich feststellen: So habe ich nie ausgesehen. Mit 40 war ich mir noch ähnlich gewesen, mit 20 auch wieder. Doch den dreißigjährigen Horst hatte ich noch nie gesehen.

 Die Kinder meinen, ein Irrtum des Programms sei quasi ausgeschlossen. Somit muss ich davon ausgehen, daß das Leben mir meine dreißiger Jahre vorenthalten hat. Also zumindest mal vom Gesicht her. Da bin ich offensichtlich ein Frühentwickler. Also hatte schon mit Mitte zwanzig das Niveau eines Vierzigjährigen erreicht. Im Gesicht. Das erklärt im Rückblick nun doch so einiges.

Noch irritierender wurde es allerdings, als wir später auch noch rumgespielt haben. Also andere Dinge, wie zum Beispiel Obst fotografiert und dann verjüngt haben. Denn ein etwas alter, schon eher runzliger Apfel hat tatsächlich, nachdem wir ihn rund fünfzig Jahre verjüngt hatten, ziemlich genau so ausgesehen, wie ich heute. Da war aber ein Hallo in der Familie und mir fiel auch nichts weiter mehr ein als die alte Berliner Redewendung:

„Da guckt einen doch der Trottel aussem Spiegel an.“

Immer eine handbreit Mampe im Glas wünscht Dir

Horst

P.S.: Anbei das Bild von mir als Hundertdreijähriger. Ich finde, hätte schlimmer kommen können.

#24 failed mate

Liebe Susanne,

daß die Ostereinkäufe mal als nationale Bewährungsprobe gelten würden, gehört zu den vielen Dingen dieser Zeit, die ich mir nie hätte vorstellen können.

Wir kaufen ja schon länger gemäß der Corona-Regeln ein. Lieber ein großer Einkauf, als viele kleine. Haushaltsübliche Mengen. Nur ein Einkäufer pro Markt. Konkret heisst dies bei uns: Wir mieten uns ein Auto, fahren zu viert zu einem zentralen Parkplatz und gehen dann zeitgleich in Supermarkt, Getränkehandel, Bioladen und Discounter. Jeder in ein Geschäft. Mit durchgehender  Konferenzschaltung, damit nichts vergessen oder mehrfach erworben wird. Das Ganze fühlt sich an, wie eine koordinierte Geheimagentenmission, was mir natürlich ausgezeichnet gefällt.

Irgendwie hat es sich ergeben, daß die anfänglich zufällige Verteilung der Geschäfte beibehalten wurde. Dies bedeutet, daß ich immer in den Discounter gehe, die Tochter hingegen jedesmal in den Biomarkt. Da wir ja aber sonst praktisch keine sozialen Kontakte außerhalb der Wohnung mehr haben, lebt sie also in einer Bioladen-Welt und ich in einem Discounter-Universum.

Manchmal habe ich das Gefühl, sie hält sich dadurch mittlerweile insgeheim für etwas Besseres. Dies wird noch verstärkt, da im Bio-Markt vor allem Obst und Gemüse eingekauft werden. Die ganzen Quarantäne-Süßigkeiten hingegen vornehmlich von mir beim Discounter eingesackt.

Sie steht für gesunde Vitamine. Ich bin der Kalorienbomber. Das schlägt sich längst auch aufs Erscheinungsbild nieder. Während sie auch in der Krise auf ihr Äußeres achtet, habe ich irgendwann aufgehört, mich zum Einkaufen umzuziehen. Eigentlich habe ich sogar ganz aufgehört, mich umzuziehen. Stattdessen werde ich jetzt oft auch für die Süßigkeiten, die andere essen, verantwortlich gemacht. Da ich sie ja in die Wohnung gebracht habe. Ich bin der schlechte Einfluss. Der gefallene Freund. The „failed mate“…

Nachdem ich der Familie von meinem Leid, also meinem gefühlten sozialen Absturz berichtet hatte, durfte ich gestern für die Ostereinkäufe in den Bioladen. Das war toll.

Ich habe mich trotzdem nicht umgezogen und dann da vor allem Süßigkeiten gekauft. Hat niemanden gestört. Die Tochter hingegen war im Discounter und hat dort das Biogemüse und -obst erstanden. Geht doch.

Einen schönen Karfreitag (Jeder nur ein Kreuz!)

wünscht Dir

Horst

#26 Ziehst Du mich, zieht es sich

Liebe Susanne,

ich weiß nicht, ob es tröstet, aber mit Deinem Corona-Koller befindest Du Dich derzeit in der Mitte der Gesellschaft. Man kommt sich vor, wie in einem Wartezimmer, in dem einem niemand sagen kann, wie lange es ungefähr noch gehen kann. Nur ab und zu laufen Leute durch den Raum die „Oh, oh, oh, oh, oh“ raunen. Oder „Weiß man nicht, wann’s wieder losgeht. Kann noch lange dauern, kann sich aber auch richtig ziehen:“ 

Also beschäftigen wir uns. Irgendwie. Unser Nachbar zum Beispiel wollte wohl den Karfreitag nutzen, um mal die Fahrräder der Familie zu reparieren. Im Innenhof. So daß ich ihn stundenlang  dabei beobachten konnte. Denn leider war seine Vorgehensweise der meinen sehr, sehr ähnlich. Zunächst hat er alles vor sich aufgebaut. Dann offensichtlich Hunger bekommen und mehr als eine Stunde lang Proviant und Getränke für die Arbeiten organisiert, bis er endlich ein Buffet hatte, dem er soweit vertraute, daß er daraufhin erstmal alle Räder irgendwie auseinander genommen hat. Er wirkte dabei fröhlich und energiegeladen.

In dem Moment aber, wo er endlich quasi alle Räder komplett in die Einzelteile zerlegt hatte, wurde er schlagartig unglaublich müde. Ab da saß er regungslos ihm Hof, starrte auf die auseinander geschraubten Räder, aß, trank und dachte nach. 

Ich kenne dieses Gefühl extrem gut. Es war, als würde ich mich dort unten sitzen sehen. An diesem Punkt gibt es noch genau zwei Möglichkeiten. Entweder man erwischt einen magischen Augenblick, rafft sich schlagartig auf und schraubt doch noch alles wieder leidlich funktionstüchtig zusammen. 

Oder man holt eine Kiste. Wo alles reingelegt wird. Erstmal. Bis man es irgendwann fertig macht. Unser Keller steht voll solcher Kisten.

Nun jedoch sitzt unser Nachbar im Hof und starrt regungslos die ihm immer fremder werdenden Fahrradteile an. Ich würde ihm so gerne helfen. Doch die einzig sinnvolle Hilfe, zu der ich mich in der Lage sehe, wäre ihm eine passende Kiste für die Einzelteile zu bringen. 

Könnte das eine Metapher sein? Also für unser gesellschaftliches Leben, das wir auch gerade komplett auseinander genommen haben. Und nun sitzen wir da, starren es an und fühlen uns urplötzlich nur noch unsäglich müde?

Wenn, dann wäre es eine schlechte Metapher. Also ich zumindest würde mir, wenn ich mir eine Metapher ausdenken würde, gewiss eine sehr viel bessere ausdenken. Doch wozu sollte ich?

Stattdessen geschieht etwas, was man sich nicht ausdenken kann. Eine andere Anwohnerin, die offensichtlich so wie ich den ganzen Tag den Nachbarn beobachtet hat, ruft laut in den Hof:

„Komm, es ist Karfreitag. Für die Auferstehung der Fahrräder hast Du noch bis Sonntag Zeit!“ Das ist mal ein wirklich einleuchtendes Argument, was auch ihm einen gutgelaunten Feierabend ermöglicht. So einfach kann es sein.

Als ich im letzten Herbst endlich mal in Kurve gekriegt habe und tatsächlich das alte schöne Schuhregal aus einer der Kisten zusammengebaut habe, war ich ziemlich stolz. Zumindest solange, bis ich rund vier Wochen später, bei einem erneuten Gang in den Keller feststellen musste, daß das alte schöne Schuhregal offensichtlich in einer anderen Kiste lagerte. 

Bis heute weiß ich nicht, aus was ich da eigentlich das alte schöne Schuhregal zusammengebaut habe. Immerhin erklärte sich so, warum das alte schöne Schuhregal nach meinem wieder zusammen bauen, überhaupt nicht mehr schön war.

Mögen alle Deine Kisten immer gut beschriftet sein

Horst

#28 Was die Blume weiß, weiß nur die Blume

Liebe Susanne,

Was der einen das Backen, ist dem anderen das ins Grüne gucken.

Eine sehr, sehr gute Freundin hat eine Art Schrebergarten im Norden Berlins. Dort konnten wir erfreulicher Weise die Ostertage verbringen. Wenn wir gemeinsam in diesem Schrebergarten sind, haben wir eine ziemlich genaue und gut funktionierende Aufteilung der Pflichten. Sie macht den Garten und ich das Schrebern. 

Wenn Du mich jetzt fragst, was Schrebern ganz genau eigentlich ist, muss ich Dir leider sagen, daß ich nicht die geringste Ahnung habe. Und das beschreibt aber wiederum sehr gut, was ich da mache. Ich verbringe meine Tage dort, damit keine Ahnung zu haben. Das ist sehr erholsam. Gerade für jemanden, der ja normalerweise so viel weiß, wie ich. 

Wusstest Du beispielsweise, daß ich weiß woher der Schrebergarten zu seinem Namen gekommen ist. Vom Leipziger Arzt Daniel Gottlob Moritz Schreber nämlich. So Sachen weiß mein Gedächtnis ohne zu googeln. Aber wie der Großteil der Pflanzen dort heisst, kann es sich nicht merken. Dennoch mache ich ihm keinen Vorwurf.

Ab und zu zieht mich die Frau aber doch ins Vertrauen. Also einzelne gartenspezifische Dinge betreffend. Es geht dann meist um irgendwelche Pflanzen, die aus irgendwelchen Gründen, irgendwelche Sachen machen oder nicht. Meistens nicht. Wachsen zum Beispiel. Oft wachsen sie nicht so, wie sie eigentlich wachsen müssten oder sollten, wenn alles mit rechten Dingen zugehen würde. Was es aber selten tut. Weil irgendwelche Pflanzen dann eben doch wohl oft einen eigenen Kopf haben. Wo einem auch alles Wissen nichts nützt. Denn was die Pflanze weiß, weiß nur die Pflanze und die sagt ja nichts. 

Deshalb wird dann also mit großer Empathie und Hingabe geforscht, was wohl dem Gewächs das Wachsen verleidet. Überlegungen werden angestellt, wie man es für die Pflanze angenehmer machen könnte. Das ist rührend mit anzusehen, bis die Frau schliesslich sagt: „Es tut mir so leid, aber ich glaube, die Pflanze fühlt sich hier einfach nicht richtig wohl.“ Gefolgt von einem ehrlichen Seufzen. Tiefster Traurigkeit. Die auch mich packt. Wo man sich natürlich wünscht diese Pflanze zu sein, die so viel Mitgefühl und Liebe bekommt. 

Bis zu dem Punkt, wo die Frau plötzlich durchatmet, die Schultern zuckt und recht sachlich sagt: „Ja gut, dann mach ich sie eben weg.“ Und dann kannst Dun nicht gucken, wie schnell diese Pflanze weg ist. Zack, da geht sie hin.

Das beeindruckt mich schon und führt dazu, daß ich mich eben ganz aufs Schrebern beschränke. Nichts anderes mache, als keine Ahnung zu haben und mich so wohl zu fühlen, daß man das auch sieht. Eins mit den Pflanzen zu werden. Zu einer fein und genügsam blühenden Blume. Klingt einfach. Ist aber für jemanden wie mich auch richtig anspruchsvolle Gartenarbeit.

Von Blume zu Blume alles Gute wünscht

Horst

#30 Ferien am Lecko Mio

Liebe Susanne,

na da habe ich jetzt doch eine Weile überlegt, was es bei Euch zum Essen gegeben haben könnte. Ich tippe mal, die Zipfelmützen sind Orecchiette-Nudeln, das Gehirngemüse Blumenkohl und die Wüstenmöhren Pommes. Was dann allerdings ein sehr seltsames Menü wäre. Daher sind die Zipfelmützen wohl doch eher irgendwelche Bratlinge in Mützenform oder tatsächlich panierte Zipfelmützen, was sicher auch lecker sein kann, wenn man richtig Hunger hat.

Im Rahmen der vielen, sich oft heftig widersprechenden Coronaprophezeiungen dieser Tage hat übrigens gerade jemand im Radio geunkt, es könnte auch sein, daß dieses Jahr die Sommerferien ausfallen. Das erinnert mich jetzt doch irgendwie an meinen Onkel, der auch ständig seiner Familie mit Urlaubsentzug gedroht hat. „Wenn das hier so weitergeht, machen wir dieses Jahr Ferien am Lecko Mio!“, war sein Lieblingsspruch. Seine Tochter hat daher tatsächlich lange gedacht, der Lecko Mio wäre ein See in Italien, wo es ganz doof ist. Ich halte das nach wie vor für nicht ausgeschlossen.

Ich selbst komme ja gebürtig aus einer Urlaubsregion. Dem Dümmer-See. Allerdings muss ich zugeben, daß wir die Urlauber, die zum urlauben zu uns gekommen sind, immer etwas skeptisch betrachtet haben. Also insgeheim haben wir gedacht: „Wie verzweifelt muss jemand sein, der seinen Sommer freiwillig bei uns verbringt. Da sogar noch Geld für bezahlt. Solchen Leuten sollte man doch wohl eher mit Vorsicht begegnen.“

Einem Campingplatzbesitzer am See ist in einer Gemeinderatssitzung sogar mal der später viel zitierte Satz rausgerutscht: „Unser Zielpublikum hier sind ja die Leute, die kein Geld für richtige Ferien haben. Oder denen das zu weit ist.“ Vor allem dieser zweite Satz, der wohl gemeint war, wie „denen richtige Ferien zu weit sind“ begeistert mich bis heute. Mir ist ja auch manchmal der Weg zum richtigen Sitzen zu weit, weshalb ich nach dem Heimkommen zeitweise sehr lange auf der Fußbank im Flur hocke.

Beobachtet man nun allerdings, wie die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern gerade ihren Berliner Urlaubern begegnen, hat man das Gefühl, die haben an sich auch keine allzu hohe Meinung von ihren Gästen.

Doch das ist ja sicherlich nur so eine Momentaufnahme. Wie so vieles gerade. Denn auch einige Leute, von denen ich immer dachte, sie wären Idioten, die ich aber dann kurzzeitig doch nicht mehr für Idioten gehalten habe, halte ich mittlerweile wieder für Idioten. 

Und das stimmt mich zuversichtlich, daß wir auf dem Weg zurück zur Normalität sind. Also ganz, ganz langsam natürlich. Noch hocken wir auf der Fußbank im Flur. Aber demnächst…was weiß denn ich.

Guten Appetit wünscht Dir

Horst

#32 Wenn’s wenigstens langweilig wäre

Liebe Susanne,

als ich der Familie gerade sagte, ich würde noch etwas für unseren Blog schreiben, fragte die mich doch tatsächlich, ob mir dieser Krisenkalender denn nicht langsam mal langweilig werde. 

Meine (auch für mich recht überraschende) Antwort war: „Wenn ich mit Dingen aufhören würde, wenn sie mir langweilig werden, wäre ich schon seit über dreissig Jahren tot.“

Ich fürchte, ich meine das ernst. Es soll ja Menschen geben, die Angst haben, daß sie vor Langeweile sterben könnten. Diese Angst hatte ich noch nie. Langeweile war schon immer mein Freund. Langeweile ist Frieden. Die Ruhe, in der die Kraft liegt. Die meiste Zeit meines Lebens sehne ich mich nach Langeweile, denn sie macht es möglich, daß man endlich mal Zeit für richtig interessante Dinge hat.

Das ist ja auch praktisch mein Hauptvorwurf an diese Corona-Krise. Sie ist nicht langweilig. Sie ist anstrengend, zerrt an den Nerven und macht Angst. 

Wobei ich ja auch eigentlich nichts gegen Angst habe. Angst schärft die Sinne. Diese unerträgliche Angst vor einem Auftritt, einer Premiere zum Beispiel, ist eine großartigsten Sachen, die ich je erleben durfte. Diese Angst macht lebendig und zeigt mir immer wieder, wie sehr sie mir hilft, Dinge zu tun, die ich ohne Angst niemals schaffen würde. Diese Angst ist eine unabdingbare Zutat zum Glück. Ohne sie würde das Ganze sehr viel weniger Spaß machen.

Doch die Corona-Angst gebärt kein Glück. Sie ist nur dumpf und doof und lähmend.

Daher würde ich mir natürlich wünschen, daß es mir endlich langweilig würde. Denn das wäre ein aufregendes Zeichen der Hoffnung. Und  ich könnte endlich wieder eine Angst haben, die sich auch lohnt. 

Hoppla, nun ist mir der heutige Beitrag doch ein wenig selbstmitleidig geraten. Daher noch zwei Sätze die die Supermarktkassiererin heute wörtlich so sagte:

 „Wenn die wenigstens wieder Fussball spielen würden. Denn wüsste ich endlich wieder, was ich verpasse, wenn ich die ganze Zeit kein Fernsehen gucke.“ 

Da hat sie recht. Auch mir fehlen besonders die Dinge, die mich nicht interessieren, immer mehr.

Auf ein Helles, aufs Gemüt

Horst

#34 Abtanzball

Liebe Susanne,

ich würde es wirklich niemals wagen, Deine Träume zu deuten oder gar zu kritisieren. Doch wenn Du Dich schon in den Jurassic Park träumst. Wo es ja nun wahrlich viel Spektakuläres und Aufregendes zu erleben gäbe. Warum verbringst Du dort dann Deine Zeit in der Bar? 

Klar, es ist Dein Traum. Aber wäre das denn nicht mal der Moment, wo man mit seinem Unterbewusstsein auch mal Tacheles reden sollte und ihm ganz klar sagen, da hätte man sich nun echt mal mehr von ihm erhofft? Ich hoffe, ich habe beim barkeepen nicht auch noch gesungen. Womöglich „Pokerface“.

Auch interessant finde ich hingegen den Hinweis der Psychologenvereinigung. Seit wann ist es denn nicht mehr normal, wenn einem Blumen und Gegenstände antworten? Ich habe einige der wichtigsten Ratschläge meines Lebens von meinen Einrichtungsgegenständen bekommen. 

Einen Tag und zwei Nächte habe ich mit meiner Jugendzimmerschreibtischlampe diskutiert, bis sie mich endlich überredet hatte, zum studieren nach Berlin zu gehen. 

Diese Lampe hatte mir übrigens Jahre zuvor Ingo geschenkt, der keinen Hund haben durfte und deshalb einem Ferkel das Stöckchen holen beigebracht hatte. Eigentlich hatte die aber seinem Bruder Jens gehört, der später fast seinen Hauptschulabschluss nicht bekommen hätte, weil er einem Lehrer mit der nackten Faust ins Gesicht geschlagen hat. Was aber ein Missverständnis war, da er sich einfach verhört hat, wie Jens später immer wieder beteuerte. Was er eigentlich gehört haben wollte, hat er nie verraten. 

Es kann aber sein, daß es ihm die Schultafel geraten hat. Das vermutete zumindest Sonja, die auch mehrfach das Gefühl hatte, diese Tafel würde zu ihr sprechen. Sonja hatte ich kennengelernt, weil ihr Tanzschulpartner unmittelbar vor dem Abtanzball erkrankt war und meine Partnerin Katrin sich auch kurz vor diesem Abschlussabend in Detlef verliebt hatte, wodurch nun Sonja und ich zum Paar wurden.

 Allerdings haben sich dann Detlef und Katrin noch am Abend des Balles wieder zerstritten und getrennt, weshalb am Ende Detlef grußlos gegangen und schließlich Sonja und Katrin zusammen getanzt haben.

Für mich war somit das Ganze sehr unglücklich verlaufen. Bis kurz vor Schluss, Da habe ich nämlich Susanne (der Name stimmt wirklich!), die Tochter des Wirtes kennengelernt, die am Tresen ausgeholfen hat. Sie hat für mich den Abend und noch viele weitere Wochen gerettet. Und hätte das Lokal meines Abtanzballes jetzt Jurassic Park geheißen, wäre das eine richtig runde Geschichte. 

Doch leider ist das aber ja das richtige Leben nie rund, sondern nur eine Abfolge kruder Erinnerungen, die meistens erst dann einen Sinn ergeben, wenn man sie vergessen hat.

Doch wer kennt das nicht.

Bis demnächst in der Jurassic Park Bar

Horst

#36 Flatten the Horst

Liebe Susanne,

auch ich habe seit Corona schon mehr als zweieinhalb Kilo zugenommen. Ich sehe diese Entwicklung mit großer Sorge und versuche den Verlauf dieser Bruttogewichtsneuzunahme bereits seit einiger Zeit durch statistische Erfassung unter Kontrolle zu kriegen.

Zu Beginn der Krise, als mir der sprunghafte Anstieg des Körpergewichts zum ersten Mal auffiel, habe ich es mit „flatten the Horst“ versucht. Es ging einfach darum, die Geschwindigkeit der Gewichtsverbreitung zu bremsen. Also die Zahl der Tage, in denen sich die Grammzahlen der Gewichtszunahme verdoppelt haben, immer weiter zu strecken. 10 bis 14 Tage waren mein Ziel. Als dies erreicht war, habe ich auch die Reproduktionszahl R genauer beobachtet, Sie musste unter eins (R1) sinken. Also jedes neue Gramm Körpergewicht durfte nur noch ein weiteres Gramm Körpergewicht verursachen. Besser natürlich weniger als ein Gramm. Ideal wären R 0,2 oder 0,3. Dann könnte ich den Gewichtszunahmevirus eventuell austrocknen und dadurch schon bald zu einem vergleichsweise normalen Leben zurückkehren.

Es gab Stimmen in meinem Körper, die gerne auf die Strategie des Herdenübergewichts gesetzt hätten. Dies hätte bedeutet, daß man einfach 70 bis 80 Prozent der Gesamtbevölkerung durchübergewichtet. Wodurch die dann irgendwann so dick sind, daß mein Übergewicht in der Gesamtbevölkerungsmasse gar nicht mehr auffällt. Doch diese Strategie ist jetzt vom Tisch. Auch weil man nicht weiß, ob Übergewicht nicht doch auch für junge Menschen schwere Verläufe haben kann.

Stattdessen jetzt also Austrocknen und dann „trace the trail“, wo ich eben hoffentlich bald schon jede Neugewichtszunahme exakt zur Ursprungskalorie zurückverfolgen kann. Jeden Gewichtsveränderungsverlauf dokumentieren und wahrscheinlich per HandyApp direkt den zuständigen Körperorganen melden kann. Ich denke, damit kriege ich das Ganze in den Griff. Ich habe ein gutes Gefühl.

Wird bestimmt nicht einfach, aber wenns einfach wäre, könnte es ja jeder.

Viel Erfolg uns allen

Horst

#38 Popcorn

Liebe Susanne,

ich möchte Dir und Deinem Sohn mein ehrliches Mitgefühl ausdrücken. Ich fürchte, es gibt einen speziellen Ort in der Hölle für Pädagogen, die politische Lyrik anhand eines Corona-Songs analysieren lassen. Und dieser Ort ist nicht schön. Das tut mir auch für den Pädagogen oder die Pädagogin leid. Ich hoffe, es war zumindest nicht Silbermond. Sonst straft der Teufel einen auch gerne mal mit einem lebenslangen, bösartigen Ohrwurm.

Das macht er bei mir beispielsweise mit dem Quasi-Lied „Popcorn“. Wann immer ich nicht wachsam bin, höre ich völlig sinnlos dieses Synthesizer-Stück. „Didi didi didi dit, didi didi didi dit, didi dididididiii dididididiii dididididiiiii di…“ Aus dem Nichts.

Für welches Vergehen in meiner Kindheit ich da büße, ist unklar. Es muss jedoch etwas wirklich Schlimmes gewesen sein.

 Vielleicht, als ich damals, beim Holen der großen Europakarte von 1848, im Kartenraum heimlich angefangen habe, mein Pausenbrot zu essen. Was streng verboten war. Also im Kartenraum zu essen. Weshalb ich das Brot schnell versteckt habe, als plötzlich ein anderer Lehrer hereinkam. 

Es dann jedoch vergessen habe. Das Brot. Einige Monate, eventuell auch Jahre lang. 

Mich nur, wie alle Lehrer und Schüler, immer gewundert habe, warum es im Kartenraum so irrsinnig unangenehm riecht. Bis schliesslich das mittlerweile von einer handbreithohen Schimmelschicht bedeckte Brot von Sönke Lahrmann gefunden wurde.

Sönke, der drei Jahre vorher mal gewettet hatte, daß er eine ganze, riesige, vierschichtige  Erdbeere-Sahne-Torte alleine aufessen kann. Was er nicht geschafft hat, da die Wette als verloren galt, wenn man sich mehr als einmal übergibt. Also noch bevor die ganze Torte gegessen ist. Wobei er sie dann am Ende schon noch komplett vertilgt hat. „Wegen der Ehre“, wie er meinte. Hat ihm aber von wegen der Wette nichts mehr genützt.

Als mein angebissenes Wurstbrot oder der vielmehr der Schimmelhügel, zu dem es geworden war, gefunden wurde, habe ich mich sofort erinnert. Aber trotzdem nichts gesagt. Ich glaube seitdem höre ich mindestens fünfmal die Woche unerwünscht „Popcorn“. Einfach so. Könnte schon sein, daß es da einen Zusammenhang gibt.

Dazu noch eine kurze aktuelle Geschichte vom Sohn meiner Cousine. Der ist nämlich vor drei Wochen zuhause ausgezogen. Mitten in der Kontaktsperre, was eine Geschichte für sich ist, die ich jetzt aber nichts erzähle.

 In jedem Falle hat meine Cousine ihn jetzt besucht. Und wie eine Mutter das so macht, vorher gefragt, ob ihm noch was fehlt in der Wohnung. Woraufhin der Sohn wörtlich meinte:

 „Nee, eigentlich nicht.“ 

Also kommt meine Cousine nur mit frischen Handtüchern dort an. Was sich als ziemlich umsichtig erweisen sollte. Allerdings stellt sie dann fest, daß ihr Sohn seit drei Wochen in Corona-Sperre dort lebt und nur eine Fritteuse besitzt. Also keinen Topf und keine Pfanne. Nichts. Nur eine Fritteuse. Und er hat „eigentlich nicht“ das Gefühl, daß ihm was fehlt. 

Meine Cousine meint nun, diese kleine Anekdote bringe den Unterschied zwischen Jungs und Mädchen ziemlich präzise auf den Punkt. Denkst Du, da ist was dran?

Fragende Grüße

Horst

#40 Ganz in weiss

Liebe Susanne,

Hängt das Hochzeitskleid dort immernoch?

Falls ja, würde es Dir etwas ausmachen, dann kurz nach der Größe zu gucken? Wenn die so ungefähr im Bereich „S“ wäre, hätte ich vielleicht eine Abnehmerin. Was man hat, das hat man.

Wohl jeder kennt Geschichten von Männern, die sich eine Pilotenuniform haben maßschneidern lassen, um mit der bessere Chancen bei Frauen zu haben. Ich aber hatte tatsächlich mal eine Bekannte, die gerne im Hochzeitskleid ausgegangen ist. 

Das hatte sie billig auf einem Flohmarkt ergattert. Geheiratet hat sie darin niemanden, aber kennengelernt jede Menge Leute. Bis heute schwört sie darauf, daß es nichts Besseres gibt, wenn man sehr viel angesprochen werden möchte. Eine allein unterwegs seiende, etwas traurig schauende Frau im Hochzeitskleid interessiert jeden Mann. Und auch jede Frau. 

Zudem kann man sich alle Geschichten ausdenken, die man nur will. Einem Hochzeitskleid, diesem Unschuldsweiss glaubt jeder alles. Tausend Gründe warum sie angeblich vor der Hochzeit in letzter Sekunde geflohen ist, hat sie sich zusammengesponnen. Nicht geglaubt wurden nur:

  • sie sollte mit einem Huhn verheiratet werden
  • sie hat versehentlich die Familie des Bräutigams ertränkt, weil sie deren Hochzeitsboot auf der Spree zum Kentern gebracht hat
  • der Bräutigam hat die Hochzeit abgesagt, weil er erfahren hat, daß sie sich im Zeugenschutzprogramm befindet

Alle anderen Räuberpistolen hat man ihr abgenommen. Egal ob es „habe einfach die Kirche nicht gefunden“-Variationen oder eine „habe Sekunden vor der Trauung bemerkt, daß mein Zukünftiger bereits eine andere Familie hat“-Spielarten waren.

Ob sie das heute noch macht, weiß ich leider nicht. Also im Moment natürlich sicher nicht, da man ja gar nicht mehr ausgehen und Leuten dummes Zeug erzählen darf. Was schade ist. 

Ich glaube, ich würde sehr gerne mal wieder am Wochenende fremde Menschen treffen, damit man sich zur gegenseitigen Unterhaltung anlügen kann.

Man staunt doch immer mal wieder, was einem so alles fehlt, wenn man mal mit dem Vermissen angefangen hat.

Am Sonntag wäre Frühschoppen-April-Derniere gewesen. Ich hätte nicht gekonnt. Das Bedauern von Dingen, die ich verpasst hätte, fehlt mir auch. Denn wenn es nicht stattfindet, kann man es ja nichtmal verpassen und das bedauern. Das mir sogar das fehlt, wundert mich jetzt schon.

Staunende Grüße

Horst