#22 Das brutzelt Dir das Obst weg

Liebe Susanne,

danke der Nachfrage. Hier ist alles prächtig. Also mal so vom Eingelegten her.

Weißt Du übrigens, daß ich einige Zeit meines Lebens damit verbracht habe, mir alte Berliner Redewendungen auszudenken?

Sowas wie: „Jetzt steht der mir hier wieder die Ecken voll!“ „Der guckt mir noch die Brille schmutzig“ oder „Das brutzelt Dir das Obst weg!“

Apropos Obst. Hast Du die Pressekonferenz der österreichischen Regierung gesehen? Alle mit Mundschutz. Irgendwie hat mich das auch an die früheren Videos der RAF-Terroristen erinnert. Ach die RAF. Da wird sich der Staat in ruhigen Momenten jetzt womöglich auch ab und an denken: Das waren noch Zeiten, als die mein größtes Problem waren.

Apropos Zeiten: Die Kinder haben gestern mit einem Programm gespielt, welches Menschen jünger machen kann. Also nicht in echt. So erfolgreich war das home-schooling nun auch nicht. Nur am Computer. Man macht ein Foto von sich und dann kann das Programm Dir mal eben so zwanzig, dreissig Jahre aus dem Gesicht rausmorphen. Das ist schon interessant. Aber auch erschreckend. Denn als mein dreißigjähriges Erscheinungsbild errechnet war, musste ich feststellen: So habe ich nie ausgesehen. Mit 40 war ich mir noch ähnlich gewesen, mit 20 auch wieder. Doch den dreißigjährigen Horst hatte ich noch nie gesehen.

 Die Kinder meinen, ein Irrtum des Programms sei quasi ausgeschlossen. Somit muss ich davon ausgehen, daß das Leben mir meine dreißiger Jahre vorenthalten hat. Also zumindest mal vom Gesicht her. Da bin ich offensichtlich ein Frühentwickler. Also hatte schon mit Mitte zwanzig das Niveau eines Vierzigjährigen erreicht. Im Gesicht. Das erklärt im Rückblick nun doch so einiges.

Noch irritierender wurde es allerdings, als wir später auch noch rumgespielt haben. Also andere Dinge, wie zum Beispiel Obst fotografiert und dann verjüngt haben. Denn ein etwas alter, schon eher runzliger Apfel hat tatsächlich, nachdem wir ihn rund fünfzig Jahre verjüngt hatten, ziemlich genau so ausgesehen, wie ich heute. Da war aber ein Hallo in der Familie und mir fiel auch nichts weiter mehr ein als die alte Berliner Redewendung:

„Da guckt einen doch der Trottel aussem Spiegel an.“

Immer eine handbreit Mampe im Glas wünscht Dir

Horst

P.S.: Anbei das Bild von mir als Hundertdreijähriger. Ich finde, hätte schlimmer kommen können.

#49 Die Husche

Lieber Horst,

was schwebt Dir vor, so ein klassischer Jutesack oder mehr was Modernes? 
In beidem sehe ich sehr gut aus, ich habe es gerade mal ausprobiert, das kaschiert auch ungemein.  

Ich bin in puncto Begrüßung jedenfalls für Lösungsvorschläge aller Art offen. 
Wenn ich derzeit gute Freunde auf der Straße oder im Park treffe, ist es immer die gleiche traurige Szene:  ich laufe freudig auf sie zu – und erstarre dann mit ausgebreiteten Armen mitten in der Bewegung. So stehe ich dann erstmal da, in visueller Umarmung quasi. „Das sieht immer aus, als würdest Du gerade zur Pirouette ansetzen“, sagt mein Sohn, „wie zur Salzstange erstarrt.“ 

Mit Redewendungen haben wir manchmal so unsere Schwierigkeiten. Aber auch mit diesem Bild konnte ich was anfangen. 

Heute früh hatte ich mit Blick in den Himmel gesagt: „Oh, ich glaube da kommt eine Husche!“
Er schaute darauf sehr skeptisch und folgte fragend meinem Blick. 
„Na… ein kurzer Regenschauer“ ergänzte ich deshalb, „eine Husche eben!“ 
„Ach so, ich hab jetzt nach irgendeinem Insekt geguckt!“ Auch eine schöne Idee. Eine Husche eben. Wir befanden dann, dass es auch ein guter Codename für die wirre Nachbarin von schräg gegenüber wäre, die wir manchmal beim Einkaufen treffen. 

Ich höre mich im Moment aber manchmal auch wirklich seltsame Sachen sagen.  
Dass es zieht, zum Beispiel. Kannst Du Dich erinnern, dass es in unseren jungen Jahren jemals gezogen hätte?! Zugluft, das war doch was für alte Leute. Ich habe das Nina mal erzählt, als wir neulich telefonierten.  „Ich weiß genau, was du meinst“ meinte sie. „Ich habe vorhin das Radio angemacht und dabei laut gesagt: Ich habe jetzt Lust auf was Flottes!“ 
Es ist immer wieder das Ridiculus-Prinzip, das uns rettet: Gemeinsam darüber zu lachen macht, dass das schlechte Gefühl verpufft. 

Was sonst so los ist? Nicht viel. 

Ich gehe immer wieder mal raus, am Flieder riechen. Ähnlich wie andere Leute eine rauchen gehen. Kette riechen, quasi. Ich liebe diesen Duft. 

Und so oft ich kann, gehe ich spazieren. Alle gehen spazieren. Lili sagt, der Hund ist schon ganz fertig, weil alle ständig mit ihm spazieren gehen. 

Mein Handy ist jetzt unter die Verschwörungstheoretiker gegangen. Wenn ich Vermummung schreibe, will es immer Verdummung daraus machen. 
Apropos, ich hatte doch erzählt, dass ich jetzt meine Lieblingsmaske gefunden habe. Ein Foto hänge ich an. 

Ach und guck, immerhin schon Text #49 heute, Horst. Kurz vor 50, wie im wirklichen Leben. Da darf man doch schon mal reden wie ne Alte?

Mit einem liebevollen Kniff in die Wange – zumal aus sicherer Entfernung –
grüßt Dich

Susanne

PS:  Ohrwurm des Tages: I´m on the Highway to Health!

#55 Was dich nicht glücklich macht

Lieber Horst,

ein guter Freund hat mir Anfang des Jahres eine Postkarte geschickt mit dem Spruch darauf: 
„Was dich nicht glücklich macht, kann weg!“ 
Ich habe sie an den Kühlschrank gebappt, weil mir der Ansatz gut gefiel, und heute gerade wieder drüber nachgedacht.

Corona könnte dann jetzt weg, Horst. 

Die aktuellen Lockerungen stimmen mich zwar verhalten fröhlich – aber verhalten überwiegt. Die Skepsis bleibt unsere stete Begleiterin, der Übermut hat Pause.
Jetzt patrouillieren auch hier am Kanalweg Polizeiautos, das hattest Du auch schon mal beobachtet, wie dann die Massen immer ganz eng zusammenrücken, um sie durchzulassen. Und beim Einkaufen neulich hat einer seine Maske kurz abgenommen, weil er niesen musste. Danach hat er sie wieder aufgesetzt. 
Bei solchen Szenen gehen mir immer so ungeduldige Comiclaute durch den Kopf (Gnggnggng!) und ich würde mir gerne mit der Hand vor die Stirn schlagen, aber ins Gesicht fassen darf man sich ja gerade nicht. 
Möglicherweise bin ich selbst ja auch keine Heilige, was Hygienevorschriften anbelangt – aber immerhin konsequent genug, um mir hier jetzt nicht in aller Öffentlichkeit an die eigene Nase zu fassen.
Ha!

Momentan reden ja gerade alle über diese vermaledeite 50. Versteh mich nicht falsch, ich habe das mit den Neuinfektionen pro Einwohner von der wissenschaftlichen Dimension her schon genau verstanden. Und dennoch zuckt etwas in mir jedesmal ganz unwissenschaftlich zusammen, wenn von 50 als Obergrenze gesprochen wird.
Ich gehe immerhin auf die Fünfzig zu, wie man es gemeinhin ausdrückt. Wobei ich diese Formulierung bei näherer Betrachtung auch nicht wirklich stimmig finde. Ich gehe nämlich überhaupt nicht auf die Fünfzig zu, die blöde Kuh kommt mir entgegen! Aber das ist ein anderes Thema.

Älterwerden. Älterwerden kann auch weg. 

Bei Deiner wirklich sehr berührenden Geschichte vom Herrn Major ist mir gleich meine Tante Gisela eingefallen. Tante Gisela hatte auch Schwierigkeiten mit dem Älterwerden und irgendwann offenbar beschlossen, bestimmte Veränderungen an sich einfach nicht mehr wahrzunehmen. Noch in ihren späten Achtzigern, als sie schon sehr lange komplett schneeweißes Haar hatte, war sie der Meinung, ihr „Blondton“ sei „eine Nuance heller geworden“. Damit kokettierte sie immer ein bißchen. „Andere müssen ja färben in meinem Alter, aber ich…“ sagte sie dann stolz. Ich glaube, auch das ist Resilienz. Nie hätten wir ihr widersprochen.

Meine Tante Gisela war die Schwester meiner Mutter, an die ich heute natürlich auch schon gedacht habe: Es ist Muttertag! 
Oh, was hat sie nicht alles mitgemacht… Selbstgemalte Bilder, getöpferte Aschenbecher (sie rauchte gar nicht), Gutscheine für Hilfe im Haushalt, die wir nie einlösten… Die Krönung war sicher, dass wir ihr in einem Jahr mal ein Waffeleisen schenkten. Wir fanden das eine tolle Idee, wir aßen sehr gerne Waffeln.

Auch aufgrund dieser etwas deprimierenden Erinnerungen wird der Muttertag in meiner Familie heute nicht wirklich begangen. Bei uns ist es ohnehin eher … – sagen wir so, als der Mann mal Basilikum eingekauft hatte, fragte der Kleine „Oh, hast du Mama wieder Blumen mitgebracht?“ 
Aber die Rose auf dem Balkon ist über Nacht von ganz allein aufgeblüht, der Mann hat Kaffee gemacht , die Kinder haben ganz entspannt den Frühstückstisch gedeckt und etwas in der Art von „Herzlichen Glückwunsch zu Deinen wohlgeratenen Kindern!“ gesagt. Das war wirklich sehr schön.
Zum Dank gehe ich vielleicht glatt mal gucken, ob ich das alte Waffeleisen finde. 

In diesem Sinne heute auch mal
glückliche Grüße von

Susanne