#1 Prinzip Hoffnung

Lieber Horst,

Die Corona-Welle schwappt durchs Land. Was für seltsame Zeiten. Letzte Woche haben wir beim Frühschoppen noch voller Leichtigkeit über Hysteriker gelästert und Klopapier verlost… und dann ging plötzlich alles sehr schnell. Ein paar Tage später waren die Bühnen dicht, die Schulen seit heute ebenfalls, und auch Alex ist plötzlich im Homeoffice. 

Wie viele andere, die sich sonst im Alltag eher die Klinke in die Hand geben und darüber klagen, dass sie sich zu selten sehen, sind auch wir nun zu Hause. 
Immer. 
Alle. 
Das ist, hm, wie sag ich es jetzt. Sagen wir einfach, es ist interessant.  
Ich höre, dass viele über die steigenden Geburtenraten reden, mit denen in zehn Monaten zu rechnen sei, bei all dem unverhofften Miteinander in den eigenen vier Wänden, zwinkerzwinker. Ich frage Dich: Warum zur Hölle redet keiner über die Scheidungsraten?!
Auch die Stimmung in der Stadt, wenn man denn doch mal zum Einkaufen das Haus verlässt, ist angespannt. 

Kurzum – es ist nicht leicht dieser Tage, die schönen Dinge im Auge zu behalten. Lass es uns trotzdem versuchen. 
Ich fang mal an:

Der Himmel ist blau, der Frühling weiß nichts von Corona und beeindruckt mich mit seiner unbeirrbaren Schönheit.

Die ersten flauschigen Mauerbienen machen es sich auf unserem Balkon gemütlich.

Die Versicherung hat gezahlt und ich habe mir noch schnell ein neues Fahrrad gekauft, bevor die meisten Geschäfte morgen schließen. Ich habe jetzt also ganz offiziell mein eigenes Hamsterrad!

Liebe Grüße,
Susanne 

#2 In der Drogerie

Liebe Susanne,

folgendes kleine Erlebnis von Gestern möchte ich Dir nicht vorenthalten.

Der Drogeriemarkt ist eine Stunde vor Ladenschluss dann doch ziemlich leergeräumt. Ein junges Paar betrachtet ratlos die leeren Toilettenpapierregale. 

„Was machen wir denn jetzt?“, fragt sie.

„Weiß nicht,“ antwortet er. Kurze Zeit später sehe ich sie lange und nachdenklich vor den Servietten stehen. Es sind leider nur noch die Kindergeburtstagsmotive übrig. Da gab es bislang wohl doch noch irgendwie eine Hemmschwelle.

Alle sagen, man soll sich nicht übertrieben bevorraten. Das finde ich ja auch. Und die Familie erstrecht. Als ich kürzlich in unserer Küche meinen Rucksack auspackte und auch zu meiner eigenen Überraschung feststellen musste, daß ich offensichtlich sechs Packungen passierte Tomaten gekauft hatte, war die Familie entsetzt:

„Was machst Du denn? Sechs Packungen? Du hast sechs Packungen passierte Tomaten gekauft? Spinnst Du? Hat Dich jemand dabei gesehen?“

Ich versuchte sie zu beruhigen. „Nein, nein. Ich habe alle in unterschiedlichen Geschäften gekauft.  Niemand wird Verdacht schöpfen.

-Na gut. Aber trotzdem. Was sollen wir denn mit den ganzen passierten Tomaten?

-Weiß nicht. Aber vielleicht können wir sie, wenn es richtig ernst wird, gegen Zigaretten tauschen.

-Warum? Keiner von uns raucht?

-Ja gut. Einerseits richtig. Aber andrerseits sollten wir uns auch von der Vorstellung verabschieden, alles planen zu können.“

Am Wochenende in Leipzig bin ich noch auf einen Zug gehastet. Ich hab ihn gerade so geschafft. Also eigentlich, denn als ich am Bahnhof ankam, musste ich feststellen, daß er ersatzlos gestrichen war. Habe deshalb einen Bahnmitarbeiter gefragt: „Oje, ist das wegen Corona?“

Er hat mich sehr freundlich und traurig angesehen, um dann emotionslos zu antworten.

„Nein, nein, das ist einfach ganz normal wegen Bahn.“

Was mich beruhigt hat. Man ist ja dieser Tage immer froh, wenns nicht Corona ist. Bei einem benachbarten Telefonierer habe ich gestern den Satzfetzen aufgeschnappt: „War aber dann doch Gott sei Dank nur eine Lungenentzündung…“ Aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Hoffe ich mal. Wegen des Mindestabstands kriegt man die Gespräche der Anderen ja oft gar nicht mehr richtig gut mit. Auch so ein sozialer Verlust, der kaum thematisiert wird.

Doch wie dem auch sei, Susanne. Zum Schluss für Dich noch was Schönes. Nämlich meine Lieblings-Corona-Meldung bislang:

„Nur ein Prozent der Bevölkerung besitzt 90 Prozent des gesamten Klopapiers.“ Die Kräfteverhältnisse verschieben sich.

Bis bald,
Horst

#3 Philadelphus coronarius

Lieber Horst,

im Internet kursieren jetzt viele Videos von singenden Menschen auf italienischen Balkonen, das finde ich sehr berührend. Ich war gerade mal auf dem Balkon und habe mir vorgestellt, das hier auch zu machen, wenn die Ausgangssperre kommt. Ein Klavier wäre auch da. Allerdings steht zu befürchten, dass die Leute hier eher die Polizei rufen oder Blumentöpfe nach mir werfen würden. Ich wohne ja in Steglitz, das ist nicht immer einfach. 
Sagen wir mal so, in meiner ersten Wohnung hier in der Gegend hatte ich schon als seltsame Kräuterhexe gegolten, weil ich Basilikum besaß. Das war den Geranienmenschen sehr unheimlich. Wenn ich jetzt noch anfange zu singen …

Nachher soll es eine Ansprache der Kanzlerin geben. Allein die Tatsache bestärkt einen schon in diesem Gefühl von Ausnahmezustand, findest Du nicht? Ich bin gespannt. 

So lange gehe ich den Balkon bepflanzen. Von Lidl habe ich vorhin einen Zierstrauch mitgebracht, den ich den Bildern auf der Verpackung nach für wilden Jasmin halte. Zu Hause erst las ich den Namen: Philadelphus coronarius. Kein Scherz. Irgendwas sagt mir, der wird gut wachsen.  

Ich habe ja kein eigenes Zimmer, in das ich mich zurückziehen kann. „Aber du hast doch die Küche“ hat mein Sohn mal gesagt. Aber nur einmal.  Jedenfalls bin ich froh, dass ich immerhin den Balkon mehr oder weniger mein eigen nennen kann, auch wenn er im Moment voll mit Weinflaschen und Bierkisten steht. Ja nun, jeder hortet auf seine Weise. 

(Seit die Kinder letzte Woche einkaufen waren, haben wir auch genug Chips und Schokolade für Monate. Alwo theoretüff.)

Liebe Grüße,
Susanne

#4 Und dann geht es wieder

Liebe Susanne,

gerade habe ich das Paar von neulich aus der Drogerie wieder gesehen. Diesmal standen sie vor den leeren Konservenregalen im Supermarkt. Unterm Arm hatte er einen großen Beutel mit Kindergeburtstagspapierservietten. Es gab nur noch einige Dosen mit hellgrauen Königsberger Klopsen auf dem Dosenfoto. Erneut sind die beiden sehr nachdenklich.

Er: „Das sieht jetzt aber wirklich super eklig aus.“

Sie: „Ja gut, aber wenn Du richtig Hunger hast…“

Er: „Genau, dann gucke ich einfach dieses Bild an und dann geht es wieder.“

Sie nehmen eine Dose.

In den Regalen der Märkte erkennt man jetzt tatsächlich mal die echten Loser-Lebensmittel. Die, die selbst zu Corona-Zeiten keiner will. Auch interessant.

In China verpflichten sie angeblich jetzt Bürger eine Corona-Kontroll-App zu installieren, die man sich im Prinzip wohl wie eine virtuelle elektronische Fussfessel vorstellen muss. Mit der können dann Ausgangs- oder Regionalsperren überwacht werden. Als Maria davon hörte, regte sie an sich einen Hund anzuschaffen. Dann dürften wir auch im Falle einer Ausgangssperre noch zweimal täglich raus. Ich gab zu bedenken, daß wir dann aber auch einen Esser mehr hätten und das einzige, was wir richtig im großen Stil bevorratet haben, sind ja passierte Tomaten. Ob das einem Hund gefällt? Sie meinte, wenn wir einen Hund hätten, müssten wir natürlich ganz anders vorsorgen. Das gab mir zu denken. Wenn ich ein Hund wäre, dürfte ich also trotz Ausgangssperre raus und mir viel größere Vorräte anlegen? Welche Vorteile könnte es noch haben, ein Hund zu sein? Wie schwierig wäre es wohl, behördlicherseits als Hund anerkannt zu werden?

Am zwei Meter entfernten Nebentisch im Café beklagte sich gestern ein Mann wegen des Home-Office, zu dem er jetzt verdonnert wurde: „Die ganze Familie beobachtet jetzt, was ich den ganzen Tag mache. Und ich kann spüren, wie sie denken: Und das ist alles? Mehr macht der nicht? Und darüber klagt der ständig, was das für ein Stress sei? Das ist ja lächerlich. Ich überlege ständig, was ich noch arbeiten könnte, um die Familie zu beeindrucken. Diese soziale Kontrolle ist die Hölle…“

Betrachten deshalb große Unternehmen in Asien immer alle Angestellten als Familienangehörige? Da sie wissen, nichts transportiert und lenkt den Druck besser als eine Familie? Ich glaube, wenn mal die ganze Corona-Geschichte vorbei ist, werden viele mit einem ganz anderen Glücksgefühl, einer ganz anderen Dankbarkeit wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Guck Susanne, jetzt habe ich wieder einen schönen, sehr positiven Schluss gefunden.

Horst

#5 Sehnsucht nach der Lösebühne

Lieber Horst,

Das stimmt, wir lernen so vieles wieder ganz neu zu schätzen, schon nach den paar Tagen Drinnensein freue ich mich wie Bolle auf unlimitierten Auslauf. Und die Freundin meines Sohnes hat mir tatsächlich schon ihren Hund zum Ausführen angeboten, wenn mir mal die Decke auf den Kopf fällt.

Heute gab es diesen Moment, in dem alle kurz Angst bekamen: Das Internet fiel aus. Bestimmt eine Viertelstunde lang.
Teenager liefen wie heimatlose Zombies durch die Wohnung, „Scrabble?“ fragte ich also fröhlich, sie sahen mich an als hätte ich ihnen Gemüse angeboten. Oder einen Exorzismus. Es war eine sehr lange Viertelstunde. 

Dabei hätte ich so gerne mal wieder Scrabble gespielt.
Ich glaube nämlich, ich habe da gerade einen Lauf, wenn es um kreative Wortschöpfungen geht. Oder vielmehr: mein Unterbewusstsein hat da einen Lauf, meistens sind es Tippfehler, aus denen diese Worte hervorgehen. Es reicht ja oft, einen Buchstaben zu vertauschen oder zu vergessen, zack, schon entstehen ganz neue Worte, über die man gerne mal eine Weile nachdenken kann. 
Der Weltuntergag zum Beispiel.
Oder die frustgerechte Kündigung. 
Auch die Hüpfprothese hat in meinem Kopf interessante Bilder entstehen lassen. 

Ach ja, und dann war da noch die Lösebühne. Auch ein schönes Wort, oder? 
Die Bühnen sind jetzt gerade mal zwei Wochen dicht und mir fehlen die Auftritte und die Kolleg*innen jetzt schon. Im Getränkemarkt habe ich mir vorhin eine Kiste mit verschiedenen Biersorten zusammengestellt, also das Weizen, das es im Schlot immer gibt für den Sonntag, das Helle aus dem Schokoladen für den Dienstag usw., Lesebühnengedenkbiere quasi. Aber letzten Endes ist Alkohol ja auch keine Lesung.

Prost, 
Susanne

PS: Weißt Du übrigens, dass meine Autokorrektur aus Deinem Namen immer Horst Everest macht? 

#6 In der Drogerie (schon wieder)

Liebe Susanne,

In unserem Drogeriemarkt, in dem bis gestern ein Wachmann stand, stehen nun zwei. Beide wirken allerdings überhaupt nicht so, als hätten sie Interesse daran, einen Streit zu schlichten. Sie sind wahrscheinlich mehr für das gute Gefühl da. So ähnlich wie Versicherungen. Die hat man ja auch im wesentlichen für das gute Gefühl versichert zu sein, falls mal was passiert. Wenn denn allerdings wirklich mal was passiert, verschwindet dieses gute Gefühl meist sehr schnell. Da sich im Regelfall ziemlich zügig herausstellt, daß das jetzt ja so einfach mit dem Versicherungsschutz nun auch wieder nicht ist. Aber bis zum Eintreten eines Schadensfalles funktionieren die meisten Versicherungen wirklich ganz ausgezeichnet. Also im Hinblick auf das gute Gefühl, versichert zu sein. Tadellos.

Gestern nun wurde ich zum ersten Mal Zeuge einer schon sehr aggressiven Auseinandersetzung zwischen zwei Männern in einem Geschäft. Auslöser war wohl die Annahme des Einen, der Andere wäre zu dicht neben ihn getreten. Während die beiden Wachleute diese Situation beruhigen wollten, indem sie sich unauffällig verhielten, beobachteten wir Kunden fasziniert den heftigen Disput. Das Besondere: Obwohl die unbändige Wut aufeinander in ihren Gesichtern stand, waren die zwei Männer sehr darauf bedacht den Mindestabstand immer einzuhalten und sich auf keinen Fall zu berühren. Es war eine Art kontaktlose Schlägerei.

Als ich zuhause der Familie dies als einen positiven Effekt der Krise zu verkaufen suchte, also daß die Menschen sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr trauen. jemand anderem ins Gesicht zu schlagen, desillusionierte mich die Tochter sofort:

„Dann werden die eben Handschuhe anziehen.“

Ich fürchte, sie hat recht. Aber vielleicht wäre das eine Möglichkeit gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern. Indem man Privatpersonen für die Dauer der Krise das Tragen von Handschuhen in Geschäften verbietet.

Beim Zahlen im Drogeriemarkt bin ich übrigens wieder dem Pärchen begegnet, das offensichtlich genau denselben Einkaufsrhythmus hat, wie ich. Diesmal kauften sie unter anderem eine große Tube Wundsalbe. Wahrscheinlich hatte der Plan Toilettenpapier durch Servietten zu ersetzen doch auch Schwachpunkte. Ich habe mich aber nicht getraut zu fragen. 

Möge Dein Papier sanft zu Dir sein

Horst

#7 Feier nicht so hart

Lieber Horst,

Unser Sohn feiert heute seinen 16. Geburtstag!
Ich habe Schokoladenkuchen gebacken, Girlanden aufgehängt und den Tisch schön gedeckt. Ein Hauch Normalität in dieser seltsamen Zeit. (Er sei sehr dankbar, sagte er übrigens, dass es keine Kindergeburtstagsservietten gibt, er bekäme diese Bilder gar nicht mehr aus dem Kopf. Danke, Horst! soll ich ausrichten.)

Einer aus der Klasse hat ihm einen Glückwunsch über WhatsApp geschickt: Feier nicht so hart, Alter! Und naja, ich sag mal, bei maximal 2 Leuten und mindestens anderthalb Meter Abstand ist das wohl ein überaus realistischer Wunsch. Immerhin hat er mit ein paar Freunden online reingefeiert.

In meiner Familie haben fast alle im März Geburtstag. Anders gesagt: Da wo andere Bewegungsmangel haben, haben wir Bewegungsmangel mit Schlagsahne. Wo soll das nur hinführen. Gestern habe ich ein Fahrzeug von der Fettfeuerwehr gesehen und war ein bißchen erleichtert, dass sie nicht direkt in unsere Straße eingebogen sind.

Aber draußen Sport machen ist ja zur Zeit noch erlaubt.

Es sind Sätze wie dieser, über die ich im Moment oft schmunzeln muss. Vor ein paar Wochen hätten wir noch von „zum Sport gehen müssen“ geredet, mitmal reden wir über „Sport machen dürfen“.  Wir besprechen morgens, wer von uns einkaufen gehen darf.  Oder wann die Schule wohl endlich wieder losgeht. 

Das mit den Schularbeiten zu Hause erlebe ich übrigens wie wohl viele andere Eltern auch als ganz schöne Herausforderung. Und ich habe den Eindruck, Lehrer gehören neben den Pflegekräften zu den Berufsgruppen, die im Laufe dieser Krise nachhaltig an Respekt und Wertschätzung gewinnen werden. Oder um es mit den kleinlauten Worten einer anderen Mutter zu sagen: „Ich dachte ja immer, der Lehrer ist das Problem…“

So, das Abenteuer ruft, ich gehe mal einkaufen.

Gruß mit Sahne,
Susanne 

#8 Ein guter Plan ist schon das halbe Scheitern

Liebe Susanne,

viele gute Glückwünsche für Deinen Sohn. Schön, daß ihr noch zu feiern versteht. Wer Sahne hat, braucht keinen Likör. Oder wie meine Tante immer sagte: „Dass wir Sahne auf unsere Früchte tun, unterscheidet uns von den Tieren.“

Uns ist aktuell die Sahne ausgegangen. Einige Zeitungen veröffentlichen ja aktuell Listen, wie unterschiedlich die einzelnen Länder in ihren Bevorratungsvorlieben sind. In der Schweiz beispielsweise waren Sahne und Pasta besonders begehrt. Die Amerikaner kaufen vor allem Waffen, wir Klopapier. Was sagt das über die einzelnen Nationen aus? In Frankreich werden in erster Linie Wein und Kondome gehamstert. Was ich einerseits für Angeberei halte und mich andrerseits zu der Frage veranlasst, ob den Franzosen denn nicht ihr eigenes Klischee auch irgendwann mal zum Hals raushängt? In Grossbritannien hingegen gibt es mittlerweile wohl praktisch gar nichts mehr. Das erste Produkt, das knapp geworden war, soll allerdings angeblich Hundefutter gewesen sein. Was man entweder sehr anrührend oder sehr verstörend finden kann. Doch ehe ich da jetzt zu lange drüber nachdenke, wechsle ich lieber das Thema.

Eine Freundin erzählte meiner Freundin am Telefon, daß ihr Mann jetzt ja viel zuhause sei und sich leider rund um die Uhr im Haushalt nützlich machen möchte. Das sei eine harte Probe für alle Familienmitglieder. Da durch ihn jede Haushaltstätigkeit den Status eines Projektes bekommt. Mit einer sehr langen Planungs- und Ankündigungsphase, nach der es bei ihm einen undurchschaubaren inneren Genehmigungsprozess durchläuft, an dessen Ende die Realisierung doch irgendwie im Sande verläuft. Wenn er noch länger helfe, würde der dadurch entstehende zeitliche Mehraufwand wohl dazu führen, daß sie noch jemanden für den Haushalt einstellen müssten, um alles schaffen zu können.

Dazu fiel mir wiederum der schöne Satz von Gerhard Polt ein: „Wenn wir uns alles, wozu wir nicht in der Lage sind, genehmigen lassen müssten, würden wir ja nie was nicht können.“

Ich weiß zwar nicht, wie das alles jetzt mit irgendwas zusammenhängt, aber wer weiß das heute schon.

Morgen ist auch noch ein Zusammenhang

Horst

#9 Veilchen im Moose

Lieber Horst,

Erst einmal ein Nachtrag zum Montagabend: 
21 Uhr. Als der Nachbar zum Rauchen auf den Balkon geht, fangen alle plötzlich an zu klatschen. Überall in den umliegenden Häusern stehen Menschen an geöffneten Fenstern und auf den Balkonen. Er richtet sich auf und hält inne. Es braucht einen Moment bis er merkt, dass er gar nicht gemeint ist…
 
Das war wirklich sehr rührend, es sind Augenblicke wie dieser, die mich ein bißchen über diese elende Zeit der geschlossenen Theatersäle hinweg trösten. 

Das Zitat Deiner Tante, das mit der Sahne, gefällt mir. Es ist so genussfreundlich! Ich habe mal nachgedacht, ob irgendeine meiner Tanten auch mal durch eine nette Redensart aufgefallen wäre, aber ich entstamme da eher der Art Familie, in der Müßiggang aller Laster Anfang war, Bescheidenheit eine Zier und vor allem Undank der Welten Lohn. 
Vielleicht brauche ich deshalb heute so viel Schlagsahne.

Außerdem fiel mir in diesem Zusammenhang eine Szene ein, in der meine Tante Erna einen unvergessenen Auftritt hatte.
Es war bei der Hochzeitsfeier meiner Cousine, alle waren aufgestanden, um auf das frisch getraute Paar anzustoßen, und der Brautvater hob gerade an, einen Toast auszusprechen. Tante Erna als die Älteste der Gesellschaft wollte endlich auch mal was sagen. Feierlich reckte sie ihr Glas in die Höhe, holte tief Luft und rief mit der ihr eigenen energischen Stimme: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht was Bess´res findet!“ 
Das muss man bei einer Hochzeit erstmal bringen. 

Ich gehe jetzt mal wieder auf meinen Balkon. Da ist die Welt noch in Ordnung, die Bienen summen und der Flieder blinzelt schon ganz zaghaft heraus. Hornveilchen habe ich auch gepflanzt. Sei wie ein Veilchen im Moose, haben meine Tanten auch immer gesagt, fällt mir dabei ein, bescheiden, sittsam und rein. Und nicht wie die stolze Rose die immer bewundert will sein. Und an Glaubenssätzen wie diesem arbeiten der Feminismus und ich uns nun seit Jahrzehnten ab.

Übrigens, der Tippfehler des Tages (siehe #5) kommt heute nicht von mir, sondern von meiner Freundin Marén: ich liebe es jetzt schon, das Buschwindhöschen!

Bunte Grüße,
Susanne

#10 Die Jogginghose im Kopf

Liebe Susanne,

auch mir ist bereits aufgefallen, daß das spontane Applaudieren in der Stadt zugenommen hat. Mir gefällt das sehr. Heute vormittag habe ich an der Kreuzung Yorck/ Ecke Gneisenaustrasse einen Unfall zweier Radfahrer gesehen. Also den Unfall selbst habe ich nicht gesehen, nur die spätere Aufregung. Einer der beiden Männer hatte sich wohl leider wirklich was gebrochen. 

In jedem Falle haben die schaulustigen Passanten, als der Rettungswagen kam, tatsächlich geklatscht. Zuerst war es eigenartig, aber dann auf eine seltsame Art schön. Irgendwie befreiend. Alle applaudierten. Auch ich. Einfach so. Die Retter haben sich gefreut und sogar der Verletzte hat irgendwann gelacht und sich bedankt. 

Wir sollten das viel häufiger machen. Warum nicht mal ein Müllauto in einer Welle des Beifalls durch die Stadt rauschen lassen. Oder den Supermarktangestellten standing ovations an der Kasse bringen. Vermutlich wäre es ein Erlebnis für alle Beteiligten. Womöglich sogar ein nettes.

Doch noch was anderes beschäftigt mich. In der Zeitung habe ich gelesen, man soll sich im Home-Office nicht zu leger kleiden, da ein zu nachlässig oder gemütlich gewähltes Outfit durchaus Auswirkungen auf die Qualität oder Sorgfalt bei der Arbeit haben kann. 

Interessant. Diesen Aspekt habe ich beim Schreiben bislang eindeutig viel zu wenig beachtet. Welchen Einfluss auf meine Texte hätte es, wenn ich mich zum Verfassen derselben mal anders anziehen würde? Oder gar nicht? 

Habe bereits beschlossen, demnächst eine Geschichte von Anfang bis Ende splitterfasernackt zu schreiben. Das habe ich noch nie gemacht. Aber bald werde ich das mal tun. Einfach um zu sehen, wie die Geschichte dann so ist. Ob man der das anmerkt? 

Wahrscheinlich werde ich sie dann ganz normal vorlesen und hinterher dem Publikum erzählen, daß ich sie nackt geschrieben habe. Komplett. Im Moment kann ich das allerdings nicht machen. Da die Familie ja den ganzen Tag zuhause ist. Die würden das nicht schätzen. Sondern im Gegenteil. 

Ich könnte allerdings auch in verschiedenen Verkleidungen schreiben. Um zu schauen, wie sich das auf den Text auswirkt. Durch den Jahresrückblick habe ich ja einiges an Kostümen in meinem Fundus. Ich könnte einen Text als Eisbär verfassen, als Kim Jong Un, John Snow, Bischof Tebartz von Elst oder Xavier Naidoo. Habe ich alles noch da. Und hinterher das Publikum raten lassen, was ich in welcher Verkleidung geschrieben habe. Das wäre ein interessantes Experiment. Was denkst Du zum Beispiel in welcher Kleidung ich diesen Text in den Computer getippt habe? Pyjama, Küchenschürze oder Sporthose?

Möge der Stoff mit Dir sein

Horst